Spielhalle O Death von Jan Decorte
Jan Decorte ist seit mehr als dreißig Jahren eine feste Größe im der Theaterlandschaft von Flander. Er war in dieser langen Zeit genialischer Regisseur, Provokateur, Ärgernis, Narr, Untergeher, Aufersteher und ist, trotzalledem, immer noch da. Seine Ästhetik, die radikalen Wandlungen unterworfen war, entzog und entzieht sich nicht selten dem Verständnis des „normalen Theatergängers“ der glücklich ist, wenn man ihm eine gute Geschichte mit adäquaten, also verständlichen und entschlüsselbaren Mitteln erzählt. Decorte will oder kann diesen Anspruch nicht unbedingt befriedigen. Die Amplitude seines künstlerischen Ausschlags liegt zumeist außerhalb dessen, was wir als common sense bezeichnen und so muss sich jeder Theatergänger darauf einstellen, etwas „Außerordentliches“ zu erleben.
In der Spielhalle der Münchner Kammerspiele erzählte Jan Decorte unter dem Titel „O Death“ die aus der Feder des Aischylos stammenden „Orestie“ (458 v. Chr.) mit seinen ureigensten Worten. Man sollte, will man dieser Geschichte einigermaßen folgen können, den Hintergrund der „Orestie“ in den Grundzügen kennen. Alles beginnt mit dem Raub der Helena durch den Trojaner Paris. Der betrogene Ehemann Menelaos wendet sich an seinen Bruder Agamemnon, der die Griechen sofort zu einem Krieg gegen Troja zusammentrommelt. Um die Flotte nach Troja in Bewegung setzen zu können, braucht es Wind. Der wird Agamemnon erst in Aussicht gestellt, wenn er seine Tochter Iphigenie opfert. Gesagt, getan. Klytaimnestra, die Mutter Antigones und Ehefrau Agamemnons ist darüber nicht amüsiert. Als er nach zehn Jahren mit seiner Kriegbeute und Geliebten Kassandra im Gepäck aus dem Trojanischen Krieg heimkehrt, werden beide von Klytaimnestra und deren Geliebten Aigisthos gemeuchelt. Elektra, zweite Tochter Agamemnons, stellt ihrerseits ihr Leben in den Dienst der Rache und bringt den Bruder Orestes dazu, die Mutter und deren Geliebten zu töten. Gesagt, getan. Nun wird Orestes von den Erinnyen (Rachegeister) fast in den Wahnsinn getrieben. Er flieht in einen Tempel, wo ihn Apollon, sein Schutzgott und Anstifter, auffordert, sich einem „Gericht“ zu stellen. Pallas Athene steht diesem vor und nach Kenntnis der Sachlage vertritt sie die Ansicht, dass eine Abstimmung über die Schuldfrage entscheiden müsse. Als nach Auszählung gleich viel Stimmen für und wider Orestes in der Urne sind, wird er freigesprochen. Die Erinnyen verwandeln sich daraufhin in die Eumeniden (Wohlgesinnten). „Nie Rachgier, wechselmordender Schuld lüstern, Blutig zerrütten die Stadt! Freude belohnen, gemeinsam. Gleiches mit allen zu lieben, allen gleich zu hassen auch, das heilt vielen Gram der Sterblichen.“ (Aischylos) Damit endet die Orestie. Sie war gleichsam die Geburtsstunde des demokratischen Denkens. Nicht die Gesetze der Götter (individuelle Rache) galt es mehr zu befolgen, sondern den geordneten Gesetzen der menschlichen Gesellschaft.
Bei Jan Decorte gab es keine Namen. Wenn die acht Darsteller abwechselnd den Fortgang der Geschichte erzählten, gab es nur Andeutungen und bestenfalls Metaphern. Decorte hat dafür eigens eine Sprache entwickelt, will meinen, er hat die Sprache neu organisiert und sie musikalisiert. Er selbst spricht dabei von Partituren. Um eine Vorstellung zu vermitteln, dies Beispiel: „sowillich / sein / vondir / gewasche / nund / gebleicht / soweiss / wiedaswe / iss / geweissli / cht / soblank / wie / dasblas / ste / wasser …“ Decorte selbst hielt sich außerhalb des Spiels auf und kommentierte aus dem Textbuch lesend. Er deklamierte seine Hymnen an den Tod, zuerst positiv, bis sich endlich die Einsicht durchgesetzt hatte, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Sein letztes Statement war die Absage an den Tod als Rechtsmittel.
Die Geschichten der Orestie wurden in einer fast kindlichen Sprache erzählt, die stets eine Gratwanderung zwischen Infantilität und archaischer Kunstsprache bedeutete. Tatsächlich waren die Texte der Darsteller nicht durchgängig beherrschbar. Es kippte auch schon mal und erzeugte Lacher. Im Theaterkosmos des Autors/Regisseurs scheint das aber kein Mangel zu sein. Bei Jan Decorte tritt unvermittelt das Sein an die Stelle des Gestaltens. Neben der stets durchscheinenden humanistischen Haltung, nie wurde Gewalt heroisiert und die Protagonisten häufig als miese Charaktere oder Dummköpfe denunziert, war es vor allem der Rhythmus und die Musikalität der Inszenierung, die hervorhebenswert erscheinen. Die Darstellung, auf die Texte trifft das weniger zu, nimmt immer wieder tänzerischen Charakter an. Der Körper ist ein zentraler Dreh- und Angelpunkt bei Decorte und so fanden sich immer wieder nackte Figuren in den Stücken. An diesem Abend agierten Anna Maria Sturm und Kristof Van Boven, ‚wie Gott sie geschaffen hatte’. Jan Decorte will damit nicht das Bedürfnis nach Voyeurismus befriedigen, sondern die Verletzlichkeit des Menschen ausstellen. Eine äußerliche Struktur und Musikalisierung erhielt der Abend durch die Gesänge und Klänge aus der Gitarre und anderen Instrumenten von Stef Kamil Carlens.
Die Kostüme Sofie D'Hoores, die Darsteller trugen vornehmlich an Frackhosen erinnernde Beinkleider mit jeweils einem Hosenträger aus Kuhhaut, wirkten nicht unbedingt archaisierend. Das Bühnenbild von Johan Daenen hingegen schon. Eine metallene Wand mit erinnerte an die Panzerplatten von Festungen. Hinter drei kleinen Aussparungen loderten Feuer. Wer andere Arbeiten Decortes kennt, wie z.B. „niks of niks“ nach Shakespeares „Much ado about nothing“, der weiß, dass er mit seinem Pult und seinen Stühlen durch unterschiedlichste Inszenierungen reist.
Das Urteil über die Arbeiten Decortes ist stets sehr unterschiedlich ausgefallen. Eines allerdings konnte man seiner Kunst nie vorwerfen: Beliebigkeit. Und das ist doch schon mal eine echte Qualität. Wie immer man sich zu seinen Arbeiten verhalten mag, man sollte dabei immer bedenken, mit welch hohem Risiko dieser Mann und seine Mitstreiter arbeiten. Es muss allerdings auch davon ausgegangen werden, dass Decorte sich selbst als Kunstwerk begreift. Es mag kleinlich klingen, doch der immer wiederkehrende Kampf des Mannes mit seiner weißen langen Mähne lenkte ab und wirkte leider eitel.
Ohne Frage entscheidet hier beim Betrachter auch der Geschmack. Darüber lohnt das Jammern nicht. Jan Decorte hat in seinem Land und auch darüber hinaus Theatergeschichte geschrieben und er tat das auf durchaus achtbarem Niveau. Auch wenn man über seine einende humanistische Botschaft hinaus seiner radikalen Ästhetik nicht folgen mochte, so hatte man doch immerhin die Gelegenheit, ihn und seine Arbeit kennen zu lernen.
O Death
von Jan Decorte
Stef Kamil Carlens, Benny Claessens, Jan Decorte, Walter Hess, Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Anna Maria Sturm, Kristof Van Boven, Sigrid Vinks
Regie: Jan Decorte