Neues Haus Schändet eure neoliberalen Biographien von René Pollesch
Schöne neoliberale Welt
Der von Michael Graessner gestaltete Raum des Neuen Hauses empfing das Pulikum in wohnlicher Atmosphäre. Die in Treppenform angelegte Tribüne war mit Teppichen ausgelegt, ein Porzellantiger verharrte an einer Säule, Palmen und untermalende Musik umrahmten die Arena. Die Bühne, (Anette Hachmann und Elisa Limberg) für das als Talkshow angelegte Stück, war geteilt in einen Kasten mit Podium, Bar, Galerie und Sofa und ein hinter einem großen Vorhang stehenden Bett, welches Interviewort und Spielwiese der Handelnden war. Von dort wurde über Videoclips eingeblendet.
"Guten Tag! Wie lebt ihr denn hier? - Ach so. - Ich dachte schon, es würde hier schlimmer aussehen! ..."
Sebastian Weber,Stefan Merki, Katharina Schubert, Gundi Ellert © Arno Declair |
Das erinnerte mich doch an ... Hans Magnus Enzensberger, der im Juli 2000 bei einem Festival in Landsberg am Lech seinen Poesieautomaten vorstellte. Die Maschine produzierte aus sechsundreißig Wörtern des Enzensbergerschen Dichtervokabulars zufällige Gedichte. Brauchbare Lyrik, technischer Schnick-Schnack oder Messlatte für angehende Literaten, lauteten die Fragen die man sich damals stellte. "Überflüssige Ernüchterung unter der Hirnrinde ... in kleinen Mengen ist alles erlaubt" warf der Automat auf Anfrage der Zeitung "Die Welt" seinerzeit aus. Die Maschine steht heute in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall und wird gelegentlich von der Museumsleitung mit neuem Material gefüttert. — "... Sondern stattdessen alle Eindrücke zusammenhanglos zu sammeln und so zu tun, als wäre das irgendwie gelebt ... Aber das ist Museum. Dein durchkapitalisiertes Scheissleben ist Museum." Ende (Pollesch).
Ob es ein guter Einfall, war das Manuskript als Programm auszuhändigen? Rene Pollesch vermeidet in seinem Text definitive Aussagen. "... weil wir an den Widerspruch glauben müssen, es gleichzeitig mit beiden Extremen zu tun zu haben ... die sich eigentlich im Wege stehen". Guerilliamäßig produzierte er über den Text Beliebigkeit bis zum Aufschrei. Er ist die neoliberale Biographie per se, eine Zusammenschau unter anderem Namen, doch nichts Neues. Es sollte, ohne Argumente, mit bloßen Phrasen, ein Denkkrieg der puren Auflehnung wegen angezettelt werden - das kam mir doch bekannt vor. Gibt es da nicht die Biographie "Provokation als Lebensprinzip"? Ja, die gibt es, aber das ist die Biografie von Frank Castorf, Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, an dessen Nebenbühne "Prater" Pollesch seit 2000 agiert. Wohl deshalb waren mir Bühnenbild, Handycam-Einsatz, Projektionswände und Spielhabitus geläufig. Hatte der Meister einen Humunculus nach München entsandt?
Um die Inszenierung "Schändet eure neoliberalen Biographien" zu verstehen, braucht man nur einen Blick auf das Castorf'sche Theater zu werfen. Frank Castorf, Provokateur mit hohem intellektuellem Anspruch, hat das künstlerische Theater abgeschafft und bietet einen Gegenentwurf zu den Mechanismen der Medien an, wobei er sich allerdings genau deren Mittel und Funktionsweisen bedient. Provokation um der Provokation Willen. Dieser Vorgang wurde zu Kunst erklärt und die Zuschauer sind zur Bestätigung dessen "zu gebrauchen". Welch perfektes Zusammenspiel ...
Schändet eure neoliberalen Biographien
von René Pollesch
Gundi Ellert, Katharina Schubert, Sebastian Weber, Stefan Merki, Viktor Herrlich (Souffleur) Regie: René Pollesch |