März

Spielhalle März von Heinar Kipphardt


 

 

Normalität – Ein Unterdrücker

Es grenzt schon an Besessenheit, wenn ein Schriftsteller zu einem und demselben Thema ein Drehbuch, einen Roman und ein Hörspiel verfasst. Heinar Kipphardt (1922-1982) war ein bedeutender Vertreter des Dokumentartheaters. Er, der bis zum Volksaufstand 1953 für das Deutsche Theater in Ostberlin schrieb, fühlte sich einem Realismus verpflichtet, der über Aufklärung und politische Agitation die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben sollte. Schlüsselwerke aus dieser Zeit waren Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“, Peter Weiss' „Die Ermittlung“ und Heinar Kipphardts „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ sowie „ Bruder Eichmann“. Heute erlebt diese Form des Theaters durch das Regiekollektiv „Rimini Protokoll“ ein verhaltene Renaissance.

Der studierte Mediziner Kipphardt mit Schwerpunkt Psychiatrie stellte mit „März“ die vermeintlich normale Gesellschaft auf den Prüfstein. Heraus kam das Psychogramm des schizophrenen Dichters Alexander März, das die Prämissen verkehrt. Es ist plötzlich die Psychiatrie, die sich auf ihre „Gesundheit“ prüfen lassen muss. Kipphardt kommt zu dem Schluss, dass Schizophrenie, dass psychotische Krankheiten ihre Ursachen in der Gesellschaft haben und nicht im erkrankten Individuum. März ist ein hochbegabter und über die Maßen sensibler Mensch, der an den gesellschaftlichen Zuständen zerbricht und sich schließlich vor den Augen seines Arztes selbst verbrennt. Der Hintergrund der Geschichte ist durchaus authentisch. Kipphardt bezog sich auf einen seinerzeit tobenden Methodenstreit in der Psychiatrie. Der wurde nicht zuletzt durch die Gedichte des schizophrenen Lyrikers Ernst Herbeck (Pseudonym: Alexander Herbich) ausgelöst, die dessen Psychiater Leo Navratil veröffentlichte.

In fünf Aufzügen wird der Weg von März durch die Klinik beschrieben, seine gemeinsame Flucht mit der Insassin Hanna und der Versuch eines Neuanfangs. Nach dem Scheitern und der Rückkehr in die Klinik tötet sich März. Der Weg bis zum bitteren Ende ist gepflastert mit Einsichten darüber, welche Rolle ein sensibler Künstler in einer pragmatischen, selbstentfremdeten, auf materielle Werte zielende Geschäft vornehmlich spielen kann und vor allem darf. Er ist ein (erhörter oder unerhörter) Messias, der letztlich auf dem Altar der Gemeinschaft geopfert wird. Ihm wird zugestanden, unterzugehen, wenn möglich auf spektakulärste Weise. Wie schaurig schön sind doch die Geschichten von wahnsinnigen Genies, die beizeiten das Zeitliche segnen. Ihre Biografien haben Konjunktur; auf die Lektüre ihrer Werke wird zumeist großzügig verzichtet. Leider kommt nie Scham auf darüber, wie die Gesellschaft mit ihren z.T. wertvollsten Mitbürgern verfahren ist. Kopfschüttelnd resümieren sämtliche Generationen, wie sehr man die Künstler, Denker und Visionäre verkannte hat, und macht unter dem Vorwand, die Normalität zu verkörpern, weiter mit der Unterdrückung des Individuum, das anders ist.

Die Reize, die uns noch aus der Daseinslethargie erwecken könnten, müssen inzwischen schon sehr heftig sein, damit wir sie wahrnehmen. Und gerade Abstumpfung, dieser Verlust an Sinnlichkeit in ihrer ganzen Komplexität und die damit einhergehende Entindividualisierung war der Denkansatz für Johan Simons, die Geschichte vom Dichter März auf der Bühne der Münchner Kammerspiele durchzuspielen. Es ist zugleich eine sehr persönliche Geschichte, denn Johan Simons findet in der Figur des Dichters Alexander März ein stückweit seinen eigenen Vater wieder.

Bühnenbildnerin Bettina Pommer schuf einen kühlen Raum, der in großen Stufen aufstieg und an die Struktur eines Hörsaales oder eines anatomischen Theaters erinnerte. Am Grund war ein Becken mit Wasser eingelassen. Die Besetzung des Dichters Alexander März mit Thomas Schmauser war wohl mehr als naheliegend, beinahe zwingend. Schmauser ist eben genau der Darsteller, der seine Sensibilität, seine innere Bewegung nicht nur spielt, sondern der sie in den entsprechenden Rollen kaum zu verbergen vermag. Die Rolle des Arztes  Dr. Kofler war mit  Sylvana Krappatsch besetzt, deren Herbheit, deren markige und disziplinierte Selbstkontrolle ihr auffälligstes Markenzeichen ist. Sandra Hüller gab eine Hanna Grätz, die als unmittelbare Spiegelung von Alexander März verstanden werden kann. So zogen sich beide unweigerlich an, liebten einander und litten unter dieser Liebe, weil sie sie nicht aushalten konnten. Wann immer eine zweite Person im Leben der beiden auftauchte, war die Begegnung mit Schmerz verbunden. „Das Lieben ist schön / Schöner als das Singen / Das Lieben hat zwei Personen / Das ist beim Lieben der Kummer.“ So war das Scheitern der Liebe vorprogrammiert.

Den beiden blieb nur, immer wieder zu Grunde, auf den Grund der tiefreichenden Bühne  zu gehen, um daraus wieder aufzusteigen in die Sphären der Euphorie, des Glücks. Simons setzte dieses Bild wortwörtlich um. Hüller und Schmauser arbeiteten sich immer wieder physisch aufwendig aus den emotionalen Niederungen heraus in die luftigen Höhen der Poesie. Sylvana Krappatsch als Dr. Kofler verharrte hingegen in der Position der Beobachterin. Wenn sie in Erscheinung trat, dann als Kommentator, indem sie aus den Krankenakten der beiden Patienten las. Regisseur Simons verzichtete in seiner Inszenierung sowohl auf den Aspekt der gesellschaftlichen Rolle der Psychiatrie, als auch auf die inneren Richtungskämpfe innerhalb der Wissenschaft. So entstand ein sehr intimes Bild von der Liebe und vom Scheitern zweier Menschen, die im Kontext der Gesellschaft als „Kranke“ stigmatisiert wurden. Sandra Hüller und Thomas Schmauser gelang es, zwei liebenswerte Wesen auf die Bühne zu zaubern, die Opfer der äußeren Umstände waren. Tatsächlich waren es Wesen, die man gern in den Arm genommen, denen man gern sein Ohr geliehen hätte, weil sie in ihrem Anderssein so spannend und aufregend waren. Doch in der Realität werden eben diese Menschen weggesperrt, weil sie den reibungslosen Ablauf des Funktionierens der zunehmend entseelten Gesellschaft gefährden. Auch ohne den berühmten Wink mit dem (ideologischen) Zaunpfahl wurde deutlich, dass die Haltung der Öffentlichkeit solchen Mitbürgern gegenüber nicht legitim ist. Auf diese Weise ist die Normalität ein großer Unterdrücker.

Johan Simons gelang einmal mehr bewegenden Theater, basierend auf einem großartigen Spiel der Darsteller, aber auch auf Grund einer ungewöhnlichen Bühnensituation. Die Zuschauer saßen gleichsam an den Steilhängen über dem vermeintlichen Abgrund. Das hatte durchaus etwas Bedrohliches und vielleicht kam bei dem einen oder anderen Zuschauer die Überlegung auf, wie schnell man doch in den Abgrund abrutschen könnte. Es war unmöglich, sich dieser Situation zu entziehen.

 

Wolf Banitzki

 


März

von Heinar Kipphardt

Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Thomas Schmauser

Regie: Johan Simons