Kammerspiele Neues Haus Die Kränkungen der Menschheit von Anta Helena Recke
Wider den Eurozentrismus in den Köpfen
Ausgangspunkt der Performance von Anta Helena Recke sind die von Sigmund Freud festgeschriebenen drei großen Kränkungen der Menschheit, die da sind: 1. Das kopernikanische Weltbild, in dem die Erde nicht mehr der Mittelunkt des Universums ist, 2. die Darwinsche Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und 3. die Freudsche Erkenntnis, dass es ein Unterbewusstsein gibt, welches der Mensch nicht beherrscht. Allerdings ging Freud hierbei vornehmlich vom männlichen weißen Europäer aus, der nach seinem dafürhalten die höchste zivilisatorische Stufe einnahm.
Die vierte vermeintliche Kränkung könnte die Erkenntnis sein, dass es sowas wie eine universelle Menschheits- und Kulturgeschichte, bislang eine europäische Vorstellung, in der Europa Hort der bedeutendsten Errungenschaften und der letzten und höchsten Kultur ist, nicht gibt. Dass diese These eine deutlich andere Qualität hat als die ersten beiden, liegt auf der Hand, denn in diesem Falle wären doch in erster Linie die Europäer gekränkt und von denen auch nur die, die einem eurozentristischen Weltbild anhängen. Aber sei es drum, die These taugt, darüber nachzudenken. Und genau das tut die Inszenierung, was auch eine besondere Qualität ist, denn hier werden keine Ergebnisse präsentiert, sondern das Nachdenken darüber. Also bleibt es Diskurs.
Der Abend begann mit der Invasion einer Primatenhorde, die auf physisch eindrucksvolle Weise unsere Vorfahren kopierte. Inmitten der Bühne von Carlo Siegfried ein Glaskasten mit einem hölzernen Rondell auf einem weißgefliesten Sockel. Der Bühnenraum ist (erklärter Maßen) ein Museum, aber auch, die Primaten werden zwischendurch gefüttert, ein Zoo. Es drängten sich die ersten Bilder aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ auf, unterlegt mit bombastischen Klängen aus „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauß. Der akustische Part für das Treiben der Primaten auf der Bühne des Neuen Hauses wurde ebenso eindrucksvoll und bombastisch von Leon Frei mit einem Gong realisiert.
v.l.n.r.: Joana Tischkau, Vincent Redetzki, Ensemble © Gabriela Neeb |
Für die Regisseurin Anta Helena Recke ist ein Museumsraum ohnehin „universalistischer und internationaler funktionierend, als der deutsche Theaterraum“, um Strukturen sichtbar zu machen. (Interview Programmheft) Und wenn sie von Strukturen spricht, meint sie vornehmlich die Strukturiertheit des „weißen alten Mannes“ der „seine Hausaufgaben nicht macht“ und daher nicht in den Stand versetzt wird, die „Matrix“ aufzubrechen, damit die Strukturen sich verändern können. Auf der Bühne (im Museum) beginnt das mit einer Diskussion um das Bild „Affen als Kunstrichter“ von Gabriel Cornelius von Max aus dem Jahr 1889. Der 1915 in München verstorbene Maler beschäftigte sich neben der Malerei mit der Anthropologie von Affen, allerdings auch mit Somnambulismus und Spiritismus. Zu ersterem Zweck hatte er in seiner Villa in Ammerland eine größere Herde von Primaten gezüchtet, die allerdings in der Regel vor der Zeit verstarben. Diese Information wurde auch ans Publikum durchgereicht.
Eine Gruppe Museumsbesucher, eben jene Repräsentanten der eurozentristischen Kulturauffassung, betrachteten und besprachen das Bild mit Blickrichtung ins Publikum. Man spekulierte darüber, was wohl auf dem Bild sein könnte, das die Affen betrachten und das für den Bildbetrachter (im Originalgemälde) nicht sichtbar wird. Um über dieses Bild und ein weiteres zu sprechen, zog man sich schließlich in das „Glashaus“ (!) zurück. Betrachtet wurde ebenfalls „Two Planets Series: Van Gogh´s The Midday Sleep and the Tai Farmers“ von Araya Rasdjarmrearnsook. Dabei handelte es sich um ein Foto, auf dem thailändische Bauern zu sehen sind, die ein Van Gogh Gemälde betrachten, das auf einer Staffelei mitten in einem grünen Feld steht. Auch hier wird gemutmaßt, was dabei vorgeht. Immer wieder korrigierten sich die Diskutanten, weil sie sich der üblichen politischen Unkorrektheiten überführt sahen. Das Wort „Wildnis“ beispielsweise assoziiert, dass die zu sehenden Menschen „Wilde“ seien. J.J. Rosseau kam in den Sinn, seine „eurozentrische“ Sicht (und deren matrixfördernder Einfluss) auf den „schönen Wilden“. Das Wort wurde ersetzt durch das unverfängliche Wort „Natur“. Ebenso wurde überdeutlich betont, dass es sich um Bäuer*innen handelte, usf.
Unvermittelt wurde die Bühne erneut geflutet, diesmal mit Menschen von nicht europäischen Kontinenten, sämtlich in farbenprächtige traditionelle Kleidung (Kostüme Pola Kardum) gewandet. Fröhlich schnatternd und gestikulierend überquerten sie die Bühne, warfen einen kurzen Blick auf das Glashaus und die darin befindlichen Europäer und zogen weiter. Die Musik von Luca Mortellaro läutete langsam und unaufhaltsam einen Paradigmenwechsel ein. Es wurde bedrohlich und die bunte Schar Nichteuropäer froren langsam ein, während sich die Europäer im Glaskasten in Entsetzen übten. Das ganze Haus geriet aus der metaphorischen Verankerung … Eine Stunde und fünf Minuten dauerte die Performance und wurde vom Premierenpublikum frenetisch gefeiert.
Die Performance von Anta Helena Recke war eine Bebilderung der „ignoranten und arroganten Haltung der Europäer“. Nun steht es jedem frei, sich darin wiederzuentdecken und die Selbstanklage anzunehmen. Die Effizienz dieser andauernden Kasteiung darf wohl in Frage gestellt werden und über die Maßen unterhaltsam ist sie auch nicht. Die Werbung durch die Kammerspiele war da konkreter als das Gesehene auf der Bühne und entdeckte das Grundproblem, um das es geht, im „gegenwärtig zu beobachtenden globale Wiedererstarken faschistischer Kräfte, Phänomene wie ‚Men’s Right Activism‘ und das selbstbewusste Auftreten von White Supremacy Gruppierungen zeigen, wie tiefgreifend die Illusion einer weißen männlichen Menschheit im weißen Körper verankert ist. Alle wehren sich mit Haut und Haaren – und sind sich für nichts zu schade.“ Es sei daran erinnert, dass diese Bewegungen immer noch Minderheiten sind und dass eine Emotionalisierung durch Bilder (nicht durch Argumente) schnell in Hysterie umschlagen kann, wie man durchaus an der Bewegung zum Klimaschutz sieht. Die meisten „Phänomene“ gab es zu fast allen Zeiten. Seien wir dankbar, dass sie sichtbarer geworden sind und wir ihnen mit Vernunft und der Macht der Wahrheit begegnen können.
Wolf Banitzki
Die Kränkungen der Menschheit
von Anta Helena Recke
Choreografie, Text, Performance: Ariane Andereggen, Jean Chaize, Noah Donker, Sir Henry, Kinan Hmeidan, Mario Lopes, Samuel Lopes, Lara-Sophie Milagro, Benjamin Radjaipour, Vincent Redetzki, Joana Tischkau, Else Tunemyr, Hayato Yamaguchi Desweiteren: Canay Altin, Belkisa Arifi, Abida Arifi, Jeanne-Francine Aziamble, Lakaraba Lilliane Blessing, Tracey Adel Cooper, Lendita Daffeh, Sinthiou Dia, Rebecca Duverger-Fischer, Amie Georgson Jammeh, Kathrin Knöpfle, Ivy Lißack, Prisca Mbawala, Seggen Mikael, Elisa Nadal, Liza Noori, Cintia Rangel Martins, Gaba Sahory, Reyes Baca, Jucilene Santos Costa, Janine Schmidt, Siri Fatou Seidl, Aya Sone, Lea Tesfaye, Roula Ukkeh, Awa Wassa, Jane Zentgraf, Kinder: Lendita Daffeh / Siri Fatou Seidl, Gong: Leon Frei Inszenierung: Anta Helena Recke |