Pathos Selbstbezichtigung/Autodiffamazione von Peter Handke


 

Suche nach Erfahrung


Wie die Erde sich sich seit Ewigkeiten um ihre eigene Achse dreht, so dreht das Wesen sich um das Ich. „Ich bin … ich habe … ich sollte … ich wurde … ich lernte …“ Immer schon wurde in diesem unmittelbaren Zusammenhang die Frage nach Sinn und Ziel gestellt. Erfahrungen, Geschichten, Bilder wurden angehäuft, dokumentiert und widerlegt. Das Leben erwies und erweist sich stets als sinnlos, oder vielmehr sinnfrei. Doch was nützt all die Freiheit, wenn diese weder erkannt noch gelebt wird, vielmehr gelebt werden darf. Den Kindergarten der moralischen Indoktrination aufzulösen, in dem die Gesellschaft gefangen gehalten wird, ist eine Botschaft aus den 60zigern des vergangenen Jahrhunderts.


„Ich habe gegen den Wind gespukt.“  Peter Handke stand zu dieser Zeit für Hinterfragung, Aufruhr und Aufbruch. In einer bigotten Gesellschaft, der die Beichte, die Selbstbezichtigung seit Jahrhunderten auferlegt war, die zudem als moralisch unverzichtbar galt, war es ein geradezu revolutionärer Akt, die Floskeln des Daseins und die soernannten Fehler aufzulisten. Was still und heimlich hinter dem Vorhang des Beichtstuhls, oder der maskierenden Persönlichkeit zelebriert wurde, gelangte vor den Vorhang auf die Bühne. Doch was blieb von dieser Bewegung in der derzeitigen Gesellschaft? Eine Frage, die wohl nur jeder für sich beantworten kann. Naturgemäß braucht es dafür Anregung. Anregung, die die beiden Künstler Lea Barletti und Werner Waas mit ihrem unverkennbar leidenschaftlichen Projekt und den Worten von Peter Handke auf die Bühne des Pathos brachten.

„Io parlato.“ Jeder, der vielen für sich stehenden Sätze bewegte Geschichten, die Geschichte Handkes, die des Darstellers und die des Zuschauers. Das Theater wurde zum dichten Kosmos von gleichzeitigen Bildern, ähnlich der Welt um die Erde, ähnlich den Träumen des Wesens um das Ich.

Abwechselnd in italienischer und deutscher Sprache trugen die in Rom geborene Lea Barletti und der in Bayern geborene Werner Waas die Selbstbezichtung/Autodiffamazione vor. Über ihren Köpfen leuchtete allzeit präsent die digitale Welt mit der Übersetzung. Harald Wissler übernahm die Verantwortung für diesen diffizielen und leicht in Irritation zu versetzenden Bereich. Seinem Part oblag auch die Musik, welche das Publikum an die Worte heranführte, so zu Beginn über universelle synthetische Frequenzen aus dem Alltag in den Theaterraum. Vom Sein in der Natur - „Ich bin geboren.“ -  bis in das Werden und die Gestaltung der Kultur - „Ich habe mich gegen die Regel des Theaters vergangen.“ - wurde der rote Faden gespannt. Bisweilen warfen die Schauspieler die Worte wie Netze aus, um die Zuhörer darin zu fangen. Manche Sätze sprach eine Frau, manche ein Mann, andere wiederum sprach ein Mensch. Auch der Auftritt des heute allgegenwärtigen Moderators hinter dem Mikrofon fehlte nicht. Das Zuhören war, wie das Zusehen eine bereichernde Aufgabe. Anspielungen auf die Geschlechterrollen gestalteten die Künstler in bekannten, doch mit Leichtigkeit umgesetzten Bildern, die wiederum eine Fülle von Assoziationsräumen auftaten. Beispielsweise aß Adam den Apfel, überaus ruhig und genüsslich, während Eva ungeduldig auf seinen Einsatz wartete. Die Harmonie des Teilens bedarf steter Aufmerksamkeit, sowie unendlicher Geduld und Toleranz.

   Selbstbezichtigung  
 

© Manuela Giusto

 

„Ich habe gegen den Wind gespukt.“  Fünfzig Jahre nach Entstehung hat das Stück nichts von seiner Aktualität verloren. Die Grenzen, nicht nur des Bewusstseins, weiten sich in diesen Tagen und öffnen den Blick für neue Realität. Damit legt es den Versuch frei, in dem Grenzen gesetzt wurden, in dem Abgrenzung jedoch unmöglich ist, da ver- und abgleichende Spiegelung die Szene beherrschten und weiterhin beherrschen werden, naturgemäß. Anzuregen gilt, dass die Menschen im gestaltenden Göttlichen Ich zusammenfinden, denn ich, wie ich, wie ich und ich kann werden zu Ich. Die Erscheinungsformen bleiben so vielfältig wie gewollt, allein die Qualität in der Form entscheidet. Dies wurde durch die Inszenierung von Werner Waas, die bewusst den Focus auf die Verbindung zwischen Darsteller und Publikum richtete auf wundervolle Weise deutlich. Und, sie stellte erneut die Frage in den Raum: „Ich“.


In Zeiten in denen die unzählbaren Selfies und geposteten Meinungen die Luft und den Tag füllen, war es eine notwendige Aufführung, die in anspruchsvoller Art, von lakonisch bis bestätigend, von klar bis zweifelnd, berührte. Auch in den unzählbaren Nuancen der Artikulation lag ihre erlebenswert anregende, aufklärende Kunst.

 
 
C.M.Meier
 
 

Selbstbezichtigung/Autodiffamazione

von Peter Handke

Ein Projekt von Barletti/Waas

Lea Barletti, Werner Waas

Regie: Werner Waas