Ich ich ich
Residenz Theater Ich Ich Ich von Eugène Labiche
Unterhaltsam aber harmlos
Dutrécy hat es geschafft. Mit Mitte Fünfzig lebt er auf der Sonnenseite des Lebens, hegt mittels Hydrotherapie seine Gesundheit und pflegt die Inhaltslosigkeit seines egomanischen Lebens. Nur die Aussicht auf noch mehr Reichtum, für den man lediglich sein Geld arbeiten zu lassen braucht, kann ihn in Erregung versetzen. Als sich sein Geschäftsfreund De la Porcheraie auffällig nach einer Immobilie des Dutrécy behandelnden Arztes Doktor Fourcinier erkundigt, wittert er Konkurrenz. Doch zwei so schamlose Spekulanten wie Dutrécy und Porcheraie finden schnell zueinander, bevor sie ein lukratives Geschäft durch übertriebenes Konkurrenzgebaren aufs Spiel setzen. Nebenher gibt es unliebsame Familienangelegenheiten zu überstehen: Der Bankier Fromental, ein ehemaliger Schulfreund Dutrécys, nebst verwitweter Tochter, Madame de Verrières, erbitten eine eheliche Verbindung zwischen Fromentals Sohn Georges und Dutrécys Nichte Thérèse. Da die Mitgift einigermaßen annehmbar ist, sagt Dutrécy zu, hoffend, dass die unleidliche Geschichte so schnell wie möglich abgewickelt wird. In diesem Moment trifft Dutrécys Neffe Armand ein. Auf einer Weltreise hatte Armand, wie das Leben so spielt, Georges Fromental das Leben gerettet. Nun tut sich ein (gar nicht so) überraschender Konflikt auf, denn beide, Georges und Armand, sind in Thérèse verliebt. Nach deren Eintreffen aus dem Internat und dem Ausbruch des Konflikts sieht Dutrécy, der dem Mädchen bislang eher gleichgültig gegenüberstand, die Möglichkeit, mit diesem fügsamen, weiblichen Wesen seinem Leben eine weitere angenehme Komponente hinzu zu fügen. Natürlich geht dieser Wunsch nicht auf, denn ein bisschen (bürgerliche) Moral muss schon sein.
Bei näherer Betrachtung des Stückes stellt man schnell fest, dass die von Eugène Labiche beschriebene Welt sich bis auf den heutigen Tag nur um sich selbst gedreht hat und ein Fortschritt nicht auszumachen ist. Geld regiert diese Welt noch immer und unterwirft sich die Gefühle. Geld gebiert Geld, eine gewaltige, inzwischen weltweite Ausbeutung schamlos verschleiernd. Kapitalismus bedeutet, und das kann man schon bei den frühen Apologeten des Liberalismus nachlesen: Es gibt keinen Reichtum ohne Armut! Jeder Reichtum schafft ein erkleckliches Maß Armut. Dabei ist Reichtum auch und vor allem eine Ausdrucksform von Egoismus, im fortgeschrittenen Stadium sogar von Egomanie. „Ich, ich, ich!“ – Willkommen in der Realität.
Zu Labiches Zeiten, das Stück stammt aus dem Jahr 1864, explodierte in der bürgerlichen Welt die Gier nach großen Vermögen. Das alte Paris fiel den ehrgeizigen Plänen des Präfekten des französischen Départements Seine und Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann zum Opfer. Unter seiner Ägide entstanden ca. 150 Kilometer neue Straßen, die das heutige großbürgerliche Stadtbild von Paris noch heute prägen. Das neue bürgerliche Selbstbewusstsein spiegelte sich auch in repräsentativen Theaterbauten, die bis heute als Flaggschiffe der Kultur in den europäischen Hauptstädten existieren. Nebenher wurden bei diesem Umbau gewaltige Vermögen gemacht. Bis 1871 schien diese Welt des Barons Haussmann unerschütterlich. Dann war die permanent vom Reichtum produzierte Armut unerträglich und die Pariser Kommune erhob sich. Doch bis dahin blieben die brisanten Themen nur wohlfeile Sujets für Unterhaltungstheater, die elementare Sprengkraft der innewohnenden Konflikte banalisierend.
Oliver Nägele, Markus Hering, Johannes Zirner, Thomas Gräßle © Andreas Pohlmann |
Martin Kušej brachte diese Salonkomödie in Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen auf die Bühne des Residenztheaters. Annette Murschetz entwarf ihm dafür ein Bühnenbild, das sich von der Ästhetik des bürgerlichen Wohnzimmer-Theaters, wie sie zu Labiches Zeiten allgegenwärtig war, deutlich unterschied. Zwei weiträumige, helle Halbrondelle, eins mit einem umlaufenden weißen Vorhang, das andere mit einer totalen Verspiegelung ausgestattet, verzichteten beinahe gänzlich auf Mobiliar oder Kulissen. Da das Stück auch keine Sprechkulissen enthält, verblieb das Spiel im undefinierten und verallgemeinerbaren Raum. Kušejs Inszenierung zeichnete sich durch ästhetische Eleganz, nicht nur dank der Kostüme von Heide Kastler, sondern auch wegen der geradezu aristokratischen Spielweise einiger Darsteller, aus, was durchaus wohltuend war. In Zeiten von Formlosigkeit kommen Erinnerungen auf an Zeiten, die perdu sind und die ihre Qualitäten hatten.
Die Rolle des Dutrécy war für Markus Hering maßgeschneidert. Er überzeugte mit vitaler Komödiantik und entblätterte die Figur bis auf die letzte egomanische Verschrobenheit. Ähnlich komödiantisch agierte Oliver Nägele als Geschäftsfreund De la Porcheraie. Der füllige Darsteller war anfangs ein monetärer Fels im trüben Gewässer der Spekulation, stimmgewaltig und verbissen, am Ende jedoch ein bedauernswertes, heulendes Häufchen Elend, nachdem ihm seine Ehefrau mit Hilfe des Bürgerlichen Gesetzbuches eine schmerzhafte Kandare angelegt hatte. Zwischen den beiden Intriganten posierte Götz Schulte eloquent als Doktor Fourcinier, der recht naiv in die Falle tappte, sich letztlich aber nicht balbieren ließ. Johannes Zirners Armand und Thomas Lettows Georges waren aus ein und demselben Holz geschnitzt. Labiches Theater jonglierte mit Prototypen und formaler Symmetrie, so dass die jungen Liebenden mit wenig unterschiedlichen Charaktereigenschaften ausgestattet waren. Das traf bis zu einem gewissen Grad auch auf Madame de Verrières, durchaus erotisch anziehend von Katharina Pichler gegeben, und auf Nora Buzalkas Thérèse zu. Letztere warf ihre weiblichen Reize eher zurückhaltend in die Waagschale. Das war vermutlich ihrem jahrelangen Internatsaufenthalt und einer daraus resultieren mädchenhaften Unbedarftheit geschuldet.
Es war ein unterhaltsamer Abend (2. Vorstellung) für ein Publikum, das sich als dankbar erwies. Allerdings war die Inszenierung deutlich zu artig, so dass das Publikum nicht einmal ansatzweise über die sozialen Verwerfungen stolperte, die durchaus hinter dem Salonstück stehen oder gesehen werden können. Die menschlichen Charaktere der Individuen verdeckten den Charakter der Gesellschaft und die brillante Komödiantik der Darsteller verstellte den Blick auf die Dimensionalität der Realität. Personifiziert wurden die sozialen Widersprüche immerhin durch die Figur des Dieners Aubin. Thomas Gräßle brachte eine verzweifelte und gepeinigte Figur auf die Bühne, der von der „Herrschaft“ nie Gehör und keine Beachtung geschenkt wurde und der, als er schließlich verbittert seinen Abschied nahm, auch nur eine Lachnummer war, wenngleich eine gute.
Es stellt sich die Frage, warum dieses Stück, das wie kaum ein anderes Stück im Repertoire der Münchener Theater, bürgerliches Amüsiertheater vorstellt, hier und heute gemacht wird. Das Programmheft war da deutlich ambitionierter verfasst, verwies auf die Hintergründe und auch auf die Aktualität. In Martin Kušej Inszenierung war wenig davon umgesetzt oder zu spüren. Hier wäre die Radikalität angebracht gewesen, die er dem „Faust“ angedeihen ließ. Immerhin geht es um eine (a-)soziale Bevölkerungsschicht, die unmenschliches Elend erzeugt und sich in ihrer psycho-pathologischen und dekadenten Veranlagung permanent selbst demontiert. Hier hätte man durchaus ein wenig nachhelfen können. So blieb es weitestgehend die von Eugène Labiche geschriebene Salon-Komödie, unterhaltsam aber harmlos.
Wolf Banitzki
Ich Ich Ich
von Eugène Labiche
Markus Hering, Johannes Zirner, Nora Buzalka, Thomas Gräßle, Oliver Nägele, Götz Schulte, Wolfram Rupperti, Thomas Lettow, Katharina Pichler Regie: Martin Kušej |