Residenztheater Vor dem Ruhestand von Thomas Bernhard


 

Der Schoss ist fruchtbar wieder

7. Oktober. Es ist der Geburtstag des Reichsführers SS Heinrich Himmler. Wie jedes Jahr steigt Rudolf Höller nach getaner Arbeit, er steht kurz vor dem Ruhestand, in seinen Keller hinab, wo er von seinen Schwestern Vera und Clara erwartet wird, um seine SS-Uniform anzuziehen und dem „genialen“ Geistesgenossen zu huldigen. Nach dreihundertvierundsechzig Tagen ideologischer und emotionaler Enthaltsamkeit ufern die Rituale aus. Da schwelgt man in nationalsozialistischem Kitsch, in Erinnerungen an die Begegnung mit dem Reichsführer SS im Lager, in dem Höller Dienst tat, und wenn der Sektkonsum fortgeschritten ist, geht’s richtig zur Sache. Dann muss die linksbolschewistische, an den Rollstuhl gefesselte Schwester Clara die gestreifte KZ-Uniform anziehen, während Vera sie kahl schert. Das erregt Rudolf dermaßen, dass er nicht an sich halten kann und er besteigt Schwester Vera.

Tina Laniks Inszenierung von Thomas Bernhards „Rachekomödie“, die 1979 am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt wurde, feierte im Residenztheater eine Wiederauferstehung. Nicht nur, dass die Ideen des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft eine Renaissance erleben, der Zuschauer kann mit Erstaunen feststellen, dass die braune Mentalität gar keine temporäre Erscheinung, sondern, wie der rechte Ideologe Götz Kubitschek beteuert, deutsche Wesensart ist. Diese, sich aller rationalen Argumentation entziehenden Aussagen werden in Bernhards Stück und vor allem in Tina Laniks Lesart durchaus gespiegelt. Damit hat Bernhard etwas vorweggenommen, was vor vierzig Jahren, als das Stück entstand, kaum vorstellbar war. Gemeint ist das „Wiedergängerhafte“ der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Protagonisten, und zwar in durchaus neuem Gewand. So zeigt sich, dass die „Übermacht der Erinnerung“, wie Kubitschek das zwingende Moment der deutschen Geschichte nennt, ein Gespenst ist, das quicklebendig und entwicklungsfähig ist.

  Vor dem Ruhestand  
 

Charlotte Schwab, Götz Schulte, Gundi Ellert

© Andreas Pohlmann

 

Frau Laniks Inszenierung begann mit der Auferstehung der drei Figuren des Stücks, die staubbeladen an der Rampe lagerten. Sie sind historische Untote, die von der Rede Götz Kubitscheks auf einer Legida-Kundgebung, gehalten am 21. Januar 2015 in Leipzig, erweckt wurden. Der eiserne Vorhang hob sich bis zur Hälfte und gab einen schwarzen Raum frei. Eine Leiter zeigte an, dass es sich um einen tief gelegenen Kellerraum handelte (Bühne: Maximilian Lindner). Darin standen zwei große schwarze Kisten, in denen alle die Artefakte, Bilder und Kleidungsstücke fein aufgeräumt lagerten, die für die makabere Gedenkfeier vonnöten waren. Ein großes Porträt von Himmler wurde aufgestellt und die geschwätzige Eva, von einer überaus agilen Gundi Ellert gespielt, schwärmte, erklärte, verklärte und verteidigte die Rituale und auch die Ideen, die dahinter standen. Charlotte Schwabs Clara war eine Gefangene, und zwar in jeder Hinsicht. Sie war an ihren Rollstuhl gefesselt und daher jeglicher eigenbestimmter Bewegung beraubt. Zudem hatte sie sich von der geschwisterlichen Ideologie losgesagt, was sie zum Feind schlechthin machte. Dementsprechend ging man mit ihr um. Selbst eine Hinrichtung war denkbar. Charlotte Schwab schüttete immer wieder ihr homerisches Lachen über die Erbärmlichkeit Rudolfs und der in inzestuöser Notgemeinschaft gefangenen Schwester Eva aus. Clara wurde nicht nur verbal traktiert. Götz Schultes Rudolf wurde schnell und ohne Vorwarnung handgreiflich. Er war längst an seinen, zum Selbstschutz errichteten Grenzen, angelangt und drohte permanent, die Kontrolle zu verlieren. Der bekennende SchutzStaffler lobte einerseits seinen noch immer beträchtlichen Einfluss, der allemal ausreichte, um im Stadtrat eine Chemiefabrik vor seiner Haustür zu verhindern. Er lebte andererseits aber auch seinen tiefen Groll gegen Gesinnungsgenossen aus, deren Opportunismus gegenüber den „demokratischen“ Verhältnissen für Rudolf gleichbedeutend mit Selbstverleugnung, mindestens aber Gesinnungslumperei war. Die Erinnerungen wurden allerdings auch sehr konkret, als Eva eine Fotoschau machte. Da wurden Begegnungen mit den Nazigrößen beschworen, Fronturlaube in schönen europäischen Städten, aber auch Judenhinrichtungen auf kleinstädtischen Marktplätzen. Die Verklärung der Geschichte war inzwischen so vollkommen, dass differenzierte Emotionen dazu nicht mehr aufkamen. Nur der Verlust und die Klage darüber blieben übrig.

Gänzlich frei von Schamgefühl und ermutigt durch die unerschütterliche, geradezu mythologische Gewissheit, das Richtige zu vertreten und zu tun, breiteten sowohl Rudolf, wie auch Eva ihre degenerierte Denkungsart aus und der Zuschauer musste erkennen, dass nicht wenige Ansätze im heutigen Polit-Sprech längst wieder geläufig und sogar hoffähig geworden sind. Es drängten sich die Einsichten auf, dass bestimmte, ideologisch gewandete Forderungen des Umweltschutzes, etliche Appelle der Kapitalismuskritik oder viele Ansprüche nach ethnischer Isolation, wie sie heute allzu leicht formuliert werden, deckungsgleich mit den Forderungen der Nazis von vor achtzig Jahren sind. In diesem Augenblick wird deutlich, wie weit der Vormarsch dieser stupiden Gesinnung schon gelungen ist und wie nahe uns die Nazis schon wieder kommen. Wenn Rudolf gegen Ende des Stücks den Tag beschwört, an dem sie sich in ihren geistigen und stofflichen Uniformen in der Öffentlichkeit wieder frei bewegen können, wird deutlich, dass er eigentlich schon gekommen ist.

Als Brecht schrieb, „der Schoss ist fruchtbar noch, …“ nahm man diese Worte als gelungenen poetischen Vers. Wenn Tina Lanik am Ende des Stücks eine große rote Fahne mit Hakenkreuz herabsenkt, wird deutlich, dass Brecht durchaus wörtlich genommen werden kann. Das Premierenpublikum bekannte sich deutlich und überschwänglich zur Botschaft der Inszenierung. Der von zahlreichen Bravos durchsetzte Applaus war fast schon eine Demonstration. Er galt darüber hinaus aber auch der darstellerischen Leistung dreier exzellenter Schauspieler. Vielleicht hätte man sich mehr stimmgewaltige Einsprüche von Seiten Charlotte Schwabs gewünscht. So wäre das Spiel nicht gar so grotesk eskaliert. Doch die sah Bernhards Text nicht vor. Der Aktualität und der Wirkung tat es keinen Abbruch. Bleibt vielmehr zu hoffen, dass die Stimmen des Widerstandes und der Vernunft in der Gesellschaft nicht verstummen. Noch sind sie nicht in der Unterzahl.

Wolf Banitzki

 


Vor dem Ruhestand

von Thomas Bernhard

Gundi Ellert, Götz Schulte, Charlotte Schwab

Regie: Tina Lanik