Residenztheater Die Räuber von Friedrich Schiller
Furioser Spielzeitauftakt am Residenztheater
Die Brüder Karl, gesund und stattlich, und Franz, kränklich und hässlich, sind mit einer exorbitanten sozialen Stellung gesegnet. Und obgleich, oder gerade weil sie alle Möglichkeiten der Entwicklung haben, wachsen sie zu sehr ungleichen Antagonisten heran. Als Karl, flügge geworden, zum Studium nach Leipzig aufbricht, lässt er seine Geliebte Amalia zurück und die Verheißung, nach dem Tod des Vaters die gesamten Besitzungen und den Herrscherstatus zu übernehmen. Franz neidet dem Bruder all das und als Karl in Leipzig unbotmäßig Schulden macht und ein tödliches Duell bestreitet, verleumdet ihn der Bruder. Der Vater verstößt ihn, wie von Franz geplant. Karl ist die Rückkehr verwehrt und bevor er in den Schuldturm oder ins Gefängnis einzieht, zieht er es vor, mit einigen Spießgesellen in die böhmischen Wälder zu gehen und eine Räuberbande zu gründen. Er wähnt sich dabei in dem Glauben, für hehre Ziele wie die Freiheit und die individuelle Souveränität zu fechten, während sein Mitgenosse Spiegelberg Raub, Vergewaltigung und Totschlag organisiert und praktiziert. Als Franz dem Vater die fingierte Nachricht vom Tod des Bruders offeriert, fällt dieser in Ohnmacht. Franz sperrt den Vater, der, totgeglaubt, offiziell beerdigt wird, in ein finsteres Gewölbe und überantwortet ihn dem Hungertod. Dann geht er rücksichtslos daran, sich Amalia gefügig zu machen.
Als Karl nach 18 Jahren, getarnt als Mecklenburgischer Graf in das väterliche Schloss zurückkehrt, muss er den Betrug erkennen. Sein Weltbild fällt in sich zusammen. Franz entdeckt den Bruder und ordnet seine Ermordung an. Angesichts seiner gescheiterten Pläne begeht der intrigante Zweitgeborene Selbstmord. Karl ermordet Amalia, denn er hatte sie den Räubern versprochen, und übergibt sich selbst der Justiz. Das Kopfgeld von tausend Louisdore für seine Ergreifung vermacht Karl einem Tagelöhner mit elf Kindern: „… dem Mann kann geholfen werden.“
Schillers „Räuber“ gehört zu den bedeutendsten klassischen politischen Stücken, das zu jeder Zeit aufgeführt wurde, um politische Botschaften öffentlich zu machen. Das Verdienst bedeutender Regisseure, die sich an dem großen dramatischen Entwurf versuchten, bestand darin, stets aufs Neue die Zeitbezüge offen zu legen und zu propagieren. Was damit gemeint ist, soll ein Zitat aus einer Friedrich Luft-Kritik zur „Räuber“-Inszenierung von Fritz Kortner am Schiller-Theater Berlin im Jahre 1959 erklären: „Er (Fritz Kortner – W.B.) hat einen genauen, modernen und höchst praktikablen Entwurf von der alten Sache. Er holt das immanent Politische aus diesem Geniestück heraus. Er stößt den Zuschauer immer wieder mit der Nase auf die Gegenwartsbezüglichkeit, von denen das Buch vollsteckt.“ Was bedeutet es nun, wenn Regisseur Ulrich Rasche in einem Interview im Programmheft zur Münchner Inszenierung gesteht: „Beim Lesen verliert man oft den Überblick, auf welcher Seite man sich politisch befindet. Zeitweise wähnt man sich im sicheren Terrain klassischer linker Begrifflichkeiten, dann wieder wird aus der Perspektive einer ‚Gemeinschaft‘ argumentiert, von der nicht klar wird, wer dazugehören soll und, vor allem, wer nicht.“
Ensemble © Andreas Pohlmann |
Nun, wenn man nicht weiß, wo man sich politisch selbst befindet, liegt das erst einmal am mangelhaften weltanschaulichen Selbstverständnis. Bislang, und hier sind gut und gerne zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte angesprochen, galten ernsthafte große politische Bestrebungen der Durch- oder Umsetzung weltanschaulicher Utopien. Das mag vielleicht auch eine Vielzahl heutiger Politiker in Erstaunen versetzen, ist aber wahr. Der Mangel an humanistischen Utopien gebiert einen richtungslosen politischen Aktionismus mit höchst absurdem Antlitz, der sich selbst gefällt und am Leben erhält. Selten war Politik so sehr das Problem und so wenig die Lösung. Sie ist schlichtweg zu einem Wirtschaftszweig verkommen, der sich vornehmlich dadurch legitimiert, dass er Futter für die Nachrichtenunterhaltungsindustrie liefert. Die Zahl der Opfer macht fassungslos.
Das soll heißen, die politische Botschaft, oder besser die fehlende (konkrete) politische Botschaft ist es nicht, was die Inszenierung von Ulrich Rasche auszeichnet, die durchaus furios genannt werden kann. Im Programmheft wird viel über das „Politische“ geschrieben, zumeist aber nur in Bezug auf ästhetische Umsetzung.
So verwundert es auch nicht, dass Rasches Inszenierungsansatz ein ästhetischer war. Er rhythmisierte den Schillerschen Text und unterlegte ihn frugal mit Musik und Gesang. Um ein geschlossenes Bild zu erreichen, schuf er zwei gewaltige, den gesamten Bühnenraum ausfüllende Laufbänder, insgesamt vierspurig. Die Laufbänder ließen sich in beide Richtungen neigen, im Ganzen heben und senken. Die gesamte Konstruktion konnte mit der Hebebühne sogar in den Bühnenhimmel gehoben werden. Das Konzept war so simpel wie genial: die Zeit oder die Geschichte als ein Weg, eine Straße. Auf diesen Geschichten – oder geschichtlichen Weg schickte Rasche die Darsteller, ließ sie abschüssiges Gelände hinab, Berge hinauf klettern und Ebenen durchwandern. Unterschiedliche Protagonisten oder Gruppen marschierten dabei im Gleichschritt miteinander oder in gegenläufigen Richtungen. Sie marschierten unentwegt. Sie mussten sogar durch Gurte und Leinen gesichert werden, denn sie erklommen schwindelerregende (dramatische) Höhen oder wandelten Abgründen entgegen. Und so wie die Darsteller stetig marschierten, wurden sie beinahe durchgängig musikalisch-rhythmisch begleitet. So bombastisch das Bühnenbild auch war, es stand, und das ist höchst lobenswert, ganz und gar im Dienst der Sprache. Die wurde, elektronisch verstärkt, zelebriert, langsam und überaus deutlich. Die Protagonisten waren nicht über spielerischen Gestus auszumachen, sondern durch ihre sprachliche Gestaltung.
Es war eine wunderbare Erfahrung, Darsteller und Darstellerinnen, wie Franz Pätzold (Karl Moor), Valery Tscheplanowa (Franz Moor), Nora Buzalka (Amalia) Götz Schulte (Graf Maximilian von Moor) oder Thomas Lettow (Spiegelberg) auf diese Weise völlig neu zu entdecken und sich an ihrer gestalterischen Sprechkraft zu erfreuen.
Wenn Ulrich Rasche in seinem Interview dazu feststellt: „In der Verbindung von Musik und Gedanke entfaltet die Sprache erst ihr ganzes Potential“, kann man nur uneingeschränkt zustimmen und gleichsam den Hut ziehen. Rasches Inszenierung bescherte dem Münchner Publikum einen aufsehenerregenden Abend, den man so schnell nicht vergessen wird, der aber auch nicht frei von Gefahren war. So wurde der Zuschauer mit ästhetischen Elementen konfrontiert, wie sie aus Diktaturen hinlänglich bekannt sind. Von der ideologischen (Überzeugungs-) Kraft des Gleichschritts marschierender Massen zeugen eine Menge Werke aus der Nazizeit, der Stalinistischen Sowjetunion und selbst aus vielen Ostblockländern zu Zeiten des Eisernen Vorhangs. Wenn die Räuber, allen voran Karl Moor und Spiegelberg, wortgewaltig und wie Donnerhall gegen die Stadt marschieren, in der man den Mitgenossen Roller gerichtet hat, um die Brandfackel und den Tod hineinzutragen, entsteht Gänsehaut. Da wabert Nebel und Licht (Gerrit Jurda) macht die Szene zu einem mitreißenden Fanal. Das sind auch in der Realität Momente, in denen das Gehirn auf Emotionsmodus umschaltet und es gibt keine Garantie, dass die Situation beherrschbar bleibt, noch, dass der Zuschauer seine Kritikfähigkeit behält. (Das merkt einer an, der vor derartigen kämpferischen Aufmärschen und Kundgebungen in der DDR stets die Flucht ergriffen hat.)
Aber Theater soll vor allem streitbar sein, um das Publikum in den Dialog zu zwingen. Sonst ist es bloße Unterhaltung. Diese Inszenierung verspricht in jedem Fall einen ästhetisch außergewöhnlichen und wirkungstechnisch sinnvollen Zugang zum Schillerstück. Es wird Wort für Wort mit einer solchen Intensität und Klarheit über die Rampe gebracht, dass Neuentdeckungen unvermeidlich sind. Die unbeschreibliche Schönheit der Schillerschen Sprache wird überdeutlich; es wird aber auch hörbar, dass sich zum Erbrechen süßlich-kitschige Passagen im Stück befinden oder Bilder, die aus einem Trash-B-Horrormovie stammen könnten. Der Preis für die fantastische Horizonterweiterung: Vier Stunden inklusive einer Pause.
Wolf Banitzki
Die Räuber
von Friedrich Schiller
Götz Schulte, Valery Tscheplanowa, Franz Pätzold, Nora Buzalka, Thomas Lettow, Max Koch, Leonard Hohm, Marcel Heuperman/Alexander Weise, László Branko Breiding, René Dumont, Moritz Borrmann, Yasin Boynuince, Kjell Brutscheidt, William Cooper, Emery Escher, Toni Jessen, Max Krause, Bekim Latifi, Cyril Manusch,
Sänger/Musiker: Sandro Schmalzl (Tenor), Martin Burgmair (Bassbariton), Gustavo Castillo (Bassbariton), Mariana Beleaeva (Violine), Jenny Scherling (Viola), Heiko Jung (E-Bass) Fabian Löbhard (Percussion)
Regie: Ulrich Rasche