Residenztheater Antigoone von Sophokles
Moral und Menschlichkeit
„Der Krieg ist vorbei. Das Lied der Vögel könnte beginnen.“ Diese beiden Sätze prangten an einem Himmel, an dem sich die Rauchschwaden des Krieges zu zerstreuen begannen und unschuldiges Blau sichtbar wurde. Hans Neuenfels hatte diese Sätze als Motto für seine „Antigone“-Inszenierung von seiner Bühnenbildnerin Katrin Connan über der strengen schwarz-weißen Kastenarchitektur einarbeiten lassen. Auf den Komparativ „könnte“ kam es dabei an, denn bei dem blieb es schließlich auch, als König Kreon am Ende des zweistündigen Theaterabends verkündete: „Lass keinen neuen Morgen leuchten!“ Er glaubte an keine Zukunft mehr.
Die ist auch schwer vorstellbar, betrachtet man das Schicksal der Labdakiden, Nachkommen des Labdakos, Enkel des Kadmos, der das siebentorige Theben begründete. Labdakos´ Sohn Laios wurde von Pelops mit einem Fluch belegt, nachdem er dessen Sohn Chrysippos, zu dem er in homosexueller Liebe entbrannt war, nach Theben entführte. Der Fluch verhieß, dass Laios, sollte er einen Sohn zeugen, von diesem ermordet werden würde. Er bekam einen Sohn namens Ödipus und eine verheerende Geschichte aus Vatermord und Inzest nahm ihren Lauf. Am Ende des Leidensweges standen die Geschwister Eteokles, Polyneikes, Ismene und Antigone.
Die Brüder Eteokles und Polyneikes teilten sich nach dem Auszug des blinden und schuldbeladenen Königs Ödipus den thebanischen Thron, doch Eteokles konnte sich der eigenen Machtlüsternheit nicht erwehrten und okkupierte diesen dauerhaft. Es kam zum Krieg („Sieben gegen Theben“) zwischen den Brüdern, der für beide tödlich endete. Kreon, Bruder des Laios, Onkel von Ödipus und zugleich auch Onkel von dessen Kindern, da Ödipus mit seinen Kindern auch gleichsam seine eigenen Geschwister gezeugt hatte, bestieg den Thron von Theben. Er verfügte, dass Polyneikes und alle, die mit ihm im Kampf gegen Theben gefallen waren, unbestattet bleiben sollten. Zuwider Handeln sollte mit dem Tod bestraft werden. Antigone, die dem ehernen Gesetz der Götter (oder der Menschlichkeit) folgend, Polyneikes beerdigte, wurde von Kreon lebendig in einer Felsenkammer eingemauert. Kreons Sohn Haimon, der mit Antigone verlobt war, konnte den Vater nicht davon abhalten.
Erst der blinde Seher Teiresias brachte den Tyrannen zur Vernunft, indem er ihm den Groll der Götter und die Unzufriedenheit der Thebaner offenbarte. Kreons Befehl lautete nun: „Die Toten sind zu begraben und die Lebenden sind aus ihren Gräbern zu befreien!“ Als die Grabkammer geöffnet wurde, hatte sich Antigone erhängt. Der verzweifelte Haimon richtete sein Schwert erst gegen den Vater und schließlich gegen sich selbst. Als der geschundene Kreon in den Palast zurückkehrte, vermeldete man ihm den Suizid der Ehefrau Eurydike. Einsam und ohne Hoffnung nahm Kreon die Regierungsgeschäfte wieder auf.
Valery Tscheplanowa, Elisabeth Trissenaar, Norman Hacker, Statisterie © Matthias Horn |
Norman Hackers Kreon war am Ende ein Geschlagener, einsichtig zwar, aber, wie bereits angedeutet, ohne Hoffnung. Zu groß war sein Werk der Zerstörung. Dabei war er anfangs von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt. Das Staatswesen, der Garant für eine stabile Gesellschaft musste über alles gestellt werden, auch über die „ewigen Gesetze“. Make Theben great again. Eines der ewigen Gesetze, der „göttlichen Gesetze“ lautete: Im Tod sind alle gleich und weder gut noch böse. Jedem Toten steht das Recht zu, bestattet zu werden. Es ist ein Ausdruck von Besessenheit oder Wahnsinn, Menschen auch im Tod noch verfolgen zu wollen. Und es ist ein Wesenszug von Diktatoren. Hackers Kreon ist ein Diktator. Hans Neuenfels ließ ihn auf Plateauschuhen wandeln, im antiken Theaterverständnis ein Mittel, Figuren in den riesigen Amphitheatern zu erhöhen oder zu überhöhen. Hackers donnernder Kreon hatte sich selbst überhöht, indem er seine eigene Austauschbarkeit leugnete. Valery Tscheplanowas Antigone schrie ihm sein begangenes Unrecht, die Leichen der Feinde geschändet zu haben, immer wieder ins Antlitz, bis sie endlich ohne Hoffnung auf Leben, Liebe, und Kinder verzichten musste. Sie, die Aufrechte, die als einzige das Menschenrecht gegen das politische Recht verteidigte, fand erst im Hades ihren geliebten Haimon, verstört und ohnmächtig von Christian Erdt gegeben, der in dieser Welt, der Welt seines Vaters, nicht leben konnte oder wollte.
Vermittelnd, verzweifelt erklärend und auch das eigene Schicksal beschwörend, mäanderte die „Frau von Theben“ zwischen den Protagonisten hin und her, die Vernunft bewahrend. In dieser Figur hatten Hans Neuenfels und Philipp Lossau den Chor der Thebaner destilliert. Gespielt wurde sie von Elisabeth Trissenaar, nicht nur kommentierend und resümierend, wie in der antiken Tragödie üblich, sondern aktiv Einfluss nehmend, diskutierend, aber auch tröstend. Als eigenständige konkrete Figur hatte sie dem thebanischen Volk sogar die eigenen Kinder geopfert. Sie war eine Betroffene und Elisabeth Trissenaar verlieh dem mit sehenswerter Präsenz und Gestaltungskraft Ausdruck.
Hans Neuenfels forderte seinen Darstellern äußerste stimmliche Expression ab, und die Zuschauer bekamen einen Eindruck, wie ein antikes kathartisches Werk klingen kann, ohne dabei eine historisierende Inszenierung auf die Bühne zu bringen. Michele Cuciuffos blinder Teiresias, von seiner Begleitung in einem eisernen Laufgitter auf die Bühne gefahren, vermochte das Mystische seiner Weissagungen in eine realistische Klage umzuwandeln, die Kreon mit ihrer Wucht auf sein menschliches Maß zurückstutzte.
Trotz der Schwere des Themas und der Ernsthaftigkeit der Umsetzung gab es auch komische Momente, was die Geschichte vorteilhaft menschlicher machte. Jörg Lichtensteins Wächter war ein Subalterner, bemüht, seinen Job so gut wie möglich zu machen, um nicht in Ungnade zu fallen. Lichtenstein lieferte mit der Zerrissenheit der Figur ein komödiantisches Glanzstück ab. Seine innere Marter machte ihn zu einem spastisch zappelnden Bündel Mensch aus Angst und Verzweiflung. Doch auch Hackers Kreon hatte komische Momente. Wann immer er angesprochen, aus dem Schlaf oder seinen Gedanken gerissen wurde, kam nicht das zu erwartende Fragewort „Was?“, sondern das Verlangen nach „Wasser!“. Das zeigte seine Überforderung und genau das war eine besondere Qualität der ästhetisch und inhaltlich geschlossenen und überaus beeindruckenden Inszenierung von Altmeister Neuenfels.
Diese desavouierende Qualität verwies nämlich darauf, dass Diktatoren bei aller Gefährlichkeit, die von ihnen ausgeht, immer auch lächerliche Figuren sind. Denken wir an Chaplins Hitlerpersiflage und seinem Tanz mit der Welt in „Der große Diktator“. Ganz zu schweigen von Mussolini, dem bis zur Besessenheit selbstverliebten Popanz in Fantasieuniform. Man muss nur genau hinschauen, wenn der kurzbeinige Putin mit apollinischem Gesichtsausdruck gelangweilt darüber redet, dass er auf einem Gipfel nicht eingeladen wurde, um zu sehen, dass es ihn wie Salzsäure zerfrisst; oder wenn Erdogan in seinem Palazzo Prozzo, flankiert von albernen Folklorekriegern, die Treppe hinab und einem neuen Osmanischen Reich entgegen schreitet; oder wenn sich Donald Trump mit spitzem Lutschmündchen und samsonischer Haarpracht zwischen seinen Barbies in einem Wohninterieur schlechtesten Geschmacks als Retter Amerikas geriert. Dagegen wirkt jede Komikfigur geradezu seriös.
Hans Neuenfels suchte nicht den Kurzschluss zur heutigen Problemwelt. Er inszenierte ein 2500 Jahre altes Drama, das noch immer gespielt wird, weil es zutiefst menschliche Grundprobleme und Grundkonflikte bezeichnet und darum immer aktuell ist. Damit sticht diese Inszenierung wohltuend aus den zahllosen dramatischen Zeitkommentaren heraus. Sie war nicht „performativ“, wollte nicht zeitnah sein und bediente nicht die (Alltags-)Sprache unserer Zeit. Es war einfach nur großartige, solide, nachhaltige Theaterkunst, die eine fundamentale Moral, die Menschlichkeit vermittelte. Dank dafür!
Wolf Banitzki
Antigone
von Sophokles
Deutsch von Ernst Buschor in einer Bearbeitung von Hans Neuenfels und Philipp Lossau
Valery Tscheplanowa, Anna Graenzer, Elisabeth Trissenaar, Norman Hacker, Jörg Lichtenstein, Christian Erdt, Michele Cuciuffo, Thomas Huber Regie: Hans Neuenfels |