Residenztheater Phädras Nacht von Albert Ostermaier / Martin Kušej


 

Die Qualen der Phädra

Der Mythos: Phädra war die Tochter des kretischen Königs Minos und dessen Ehefrau Pasiphaë. Folglich war sie die Schwester der Ariadne und auch die Halbschwester des Minotaurus. Als ihren Ehemann erwählte sie Theseus, den Schlächter des Minotaurus, der bei dieser Aktion von Ariadne mit dem sprichwörtlichen Faden unterstützt worden war, der er wenig ehrenhaft die Ehe versprochen und sie auf seiner Heimreise nach Athen auf Naxos sitzen gelassen hatte. Theseus zeichnete sich vornehmlich dadurch aus, dass er eine Menge Ungeheuer und auch Menschen erschlug. Man nannte ihn in der Antike und man nennt auch heute solche Gestalten noch immer Helden. Aus dem Krieg gegen die Amazonen brachte er als Kriegsbeute deren Königin Hippolyte oder Antiope als Gemahlin mit nach Athen. Sie schenkte ihm seinen Sohn Hippolytos. Der junge Mann, ein Jäger, hatte der sinnlichen Liebe gänzlich entsagt und sich der Göttin Artemis verschrieben. Die zweite Ehefrau des Theseus, Phädra, verliebte sich in ihren Stiefsohn während der langen Abwesenheiten ihres Mannes. Hippolytos wies die Liebe seiner Stiefmutter zurück. Phädra verleugnete ihn daraufhin beim Vater wegen unerlaubter Nachstellungen und nahm sich das Leben. Von Theseus verflucht, erlitt Hippolytos einen Verkehrsunfall. Er stürzte vom Wagen, als die Pferde vor einem Ungeheuer, welches der Gott Poseidon geschickt hatte, scheuten, und wurde zu Tode geschleift. Theseus hatte Poseidon, der sein Vater war, darum gebeten.  

Euripides war der erste Dramatiker, der sich des Stoffes annahm. 428 v.Chr. uraufgeführt, errang er mit seinem Drama „Hippolytos“ den ersten Preis. In diesem Drama stellen zwei Göttinnen die dramaturgischen Weichen. Artemis ist die Göttin der Keuschheit und dem Hippolytos besonders zugetan, der die Liebe verachtet. Gegenspielerin ist bei Euripides die Göttin Aphrodite, die für hemmungslose sinnliche Liebe steht. Sie infiziert Phädra mit dem übermächtigen Verlangen nach ihrem Stiefsohn. Die Geschichte nimmt den bekannten Verlauf. Allerdings erzählte Euripides nicht nur den Mythos, darin unterschied er sich von seinen beiden großen Vorgängern Aischylos und Sophokles, sondern er schuf ein psychologisches Meisterstück. Darin wird die in tiefster Seele grundanständige Phädra von der Liebe überrollt und erschlagen. Sie muss an dem Jäger und Athleten Hippolytos scheitern, dessen Selbstverliebtheit in Frigidität gipfelt. Es ist ein erotisches Seelendrama.

Als nächste wichtige Etappe des Stoffes auf den Bühnen der Welt gilt die Adaption durch Racine, dem Vollender der französischen klassischen Tragödie, aus dem Jahre 1677 mit dem Titel „Phèdre“. Die Kenntnis dieses Stückes verdankte das deutsche Theaterpublikum einer Übersetzung Friedrich Schillers, die er im Jahr 1804 besorgte. Auch Racine folgte im Wesentlichen dem Mythos, nahm allerdings die Rolle der beiden Göttinnen soweit zurück, dass sie als Sinnbilder menschlicher Leidenschaften in Erscheinung treten. Damit übertrug er den Protagonisten die Verantwortung für ihr Handeln, für ihre irdischen Leidenschaften, insbesondere der Phädras, die, angestoßen von ihrem Gewissen mittels ihrer Intelligenz, eine Selbstanalyse wagt, an deren Ende die Selbstverurteilung steht. Weniger hassenswert als bei Euripides erscheint Phädra, da die Verleugnung des Stiefsohns durch die dümmliche Amme geschieht.

Die beiden Beispiele verdeutlichen, dass der Mythos einer überdimensionalen Folie gleicht, die über der ganzen Menschheitsgeschichte liegt und die in jedem geistigen Zeitalter eine ureigene Interpretation erfuhr. Und genau das macht einen Mythos so großartig, denn er beschreibt die inneren und äußeren Gesetzmäßigkeiten menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns.

  Phaedras Nacht  
 

Bibiana Beglau, Nils Strunk

© Matthias Horn

 

Nun haben sich Martin Kušej und Albert Ostermaier des Stoffs angenommen und ihn auf die Bühne des Residenztheaters gebracht. Martin Kušej sprach in einem Empfang vor der Premiere davon, dass ihm dieses Thema am Herzen lag. Also holte er sich Albert Ostermaier als sprachliche Unterstützung dazu, und nannte „Phädras Nacht“ ihr Projekt. Das war klug, denn einem Vergleich mit Euripides oder Racine kann dieses Projekt nicht standhalten. Martin Kušej ging es auch weniger darum, ein psychologisches Spiel zwischen Liebenden (Jeder liebt den Falschen, so dass sie zueinander nicht kommen können.) auf die Bühne zu bringen, sondern vielmehr die Gesellschaft zu beschreiben, in der sich die emotionalen Entwicklungen abspielen. Diese Gesellschaft befindet sich in einem äußeren Krieg, dem in Afghanistan, und einem inneren, dem inzwischen offen ausgebrochenen Konflikt der Demokratie mit den Neonazis und dem von Populisten gesteuerten Mob. Übrigens, ein Mob setzt sich immer aus unseren Mitmenschen zusammen.

Theseus, Aurel Manthei martialisch in Felduniform, schickte seinen Übersetzer Hippolyt, eingeschüchtert und hoffnungslos von Nils Strunk gegeben, zu seiner Frau nach Deutschland, damit sie ihn liebe wie ihren eigenen Sohn. Bibiana Beglaus Phädra war eine haltlose, alkohol- und drogensüchtige Frau, deren Sehnsucht nach Liebe, hier ganz und gar nicht die hohe Macht der Klassik, wie Notgeilheit daherkommt. Frau Beglau spielte die Rolle mit der ihr eigenen darstellerischen Exzessivität und physischen Selbstzerstörungsbereitschaft. Dabei erinnerte sie in Haltung und Ausdruck nicht selten an die großen Figuren des expressionistischen Stummfilms. (Conrad Feidt als Cesare in  Das Cabinet des Dr. Caligari oder Max Schreck als Graf Orlok in Nosferatu) Dazwischen parlierte mit freiem Oberkörper Thomas Gräßle als Asklepios herum, eine graue Eminenz, einer der durchblickte, aber auch einer der die Drogen verabreichte, die Theseus aus Afganistan lieferte. Empfänger waren deutsche Neonazis, angeführt von einem plakativen Gunther Eckes. Die Nazis, resp. der Mob gaben den Chor, in der antiken Tragödie war dieser Hüter der Vernunft. Pauline Fusbans Aricia, leibliche Tochter des Theseus und der Phädra, verlor sich ihrerseits selbstquälerisch in der Liebe zu Hippolyt, die Zeichen nicht achtend, die längst unübersehbar waren.

So zäh, wie die Geschichte sich entwickelte, denn Konflikt zu definieren, brauchte es eine der zwei Stunden, so rasant und sprunghaft kam die Katastrophe. Enervierend war das als komplizierte Methaper von Martin Kušej vorab angekündigte (Nur vom Residenztheater realisierbare!) Bühnenbild von Annette Murschetz. Zwei diagonal gegeneinander aufgestellte graue Wände mit drei und vier großen Türausschnitten ließen den Blick auf die hintere Bühne, Aufmarschbahnen für Nazis und Mob, frei. Der Boden war gänzlich mit zerbrochenen und vor sich hinschmelzenden Eisplatten bedeckt. Das konnte natürlich viel bedeuten: Die Kälte dieser Welt; eine Welt liegt in Scherben; wir wandeln auf dünnem Eis oder „Wir marschieren weiter, bis alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!“ Dass darauf kein normales Gehen möglich ist, liegt auf der Hand. Und so staksten die Darsteller durch eine kalte Realität in Trümmern. Als Kunstmittel durchaus bewährt, wenngleich es hier wenig sichtbaren Einfluss auf die Qualität hatte. Weder wurde die Sprache dadurch anders rhythmisiert, noch unterstützten die unnatürlichen Bewegungsabläufe inhaltliche Aussagen. Was Martin Kušej in seiner Inszenierung von „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ mit hunderten Glasflaschen klar und deutlich gelang, blieb hier fragwürdig.

Es war nicht die Inszenierung eines großen Mythos´, sondern eine durch einen Mythos inspirierte reichlich grobschlächtige Realtätsreflektion die ästhetisch weder fesselte, noch inhaltlich spannend war. Dabei bildeten Klischees die Eckpfeiler einer Dramaturgie, die weder ausgewogen, noch schlüssig erschien: Theseus als abgefuckter Warlord und Drogenbaron; die Nazis als eine dumpfgeistige Gang von Dealern; der Afghane als per se - Toter.

Martin Kušej setzt in seinen Inszenierungen häufig auf brachiale Bilder, die dem Elementaren entspringen, die sich aber gelegentlich als zu plakativ entpuppen. Trotz allen körperlichen und stimmlichen Einsatzes der Darsteller hatte die Inszenierung keine echte Sogkraft. Das lag nicht zuletzt auch an dem Auseinanderklaffen einer mythologischen Sprache und einer dargestellten banalen Wirklichkeit. Als Bibiana Beglau nach ihrem Schlussmonolog in die Schwärze ihrer Existenz, hier „Phädras Nacht“ genannt, hinabsteigt, wurde noch einmal versucht, tragische Größe zu zelebrieren. Als das Licht anging, war sie nur schwarz gekleidet und angemalt. Weder war es glaubhaft, noch machte es betroffen. Fazit: Zwei quälend lange Stunden ohne nennenswerte Erkenntnisse.

Wolf Banitzki

 


Phädras Nacht

Ein Projekt von Albert Ostermaier und Martin Kušej

Bibiana Beglau, Aurel Manthei, Pauline Fusban, Nils Strunk, Thomas Gräßle, Gunther Eckes

Regie: Martin Kušej