Residenztheater Rückkehr in die Wüste von Bernard-Marie Koltès
Großer Zauber
Vor dreißig Jahren schrieb Bernard-Marie Koltès (1948-1989) seine Komödie „Rückkehr in die Wüste“, und es ist kaum zu glauben, wie brandaktuell das Stück heute noch ist. Das ist auch der vornehmliche Grund für die Regisseurin Amélie Niermeyer gewesen, es auf die Bühne des Münchner Residenztheaters zu bringen. Wenn Koltès sein Drama eine Komödie nannte, so tat er dies in Anlehnung an Tschechow, dessen Komödien immer auch starke Tragödien innewohnten.
„Rückkehr in die Wüste“ erzählt die Geschichte des Geschwisterpaares Mathilde und Adrien, die einer Industriellenfamilie entstammen und in der französischen Provinz leben. Mathildes Tragödie begann bereits in den 30er Jahren, als sie zwei Mal hintereinander schwanger wurde und keinen Vater benennen konnte oder wollte. Man warf ihr zum Kriegsende schließlich Kollaboration mit den Deutschen vor, scherte sie kahl und vertrieb sie. Bei dieser Intrige, die die noblen Herren der städtischen Gesellschaft eingefädelt hatten, war auch Bruder Adrien beteiligt. Als Mathilde nach 15 Jahren mit ihren Kindern Fatima und Edouard aus Algerien in die „Wüste“ der französischen Provinz zurückkehrt, ist sie nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Rache.
Adrien lebte während der vergangenen Jahre in dem festungsartigen Elternhaus, dass laut Erbe Mathilde zusteht. Seinen Sohn Mathieu hält er ebenso unter Verschluss wie sich selbst und seine trunksüchtige zweite Ehefrau. Wöchentlich tagen die Honoratioren der Stadt bei Adrien. Sie, die selbsternannten Ordnungshüter, planen einen Bombenanschlag in einem städtischen Cafe, um die Sicherheitsschrauben noch fester anzuziehen und um einen Grund zu haben, endlich gegen die Ausländer vorzugehen. Adriens Sohn Mathieu erkennt und begreift durch die Begegnung mit seinem Cousin Edouard, der ihm von Algerien erzählt, seine eigene Gefangenschaft. Er will ausbrechen, sich zum Kriegsdienst melden und ein Held werden. Als die Bombe im Cafe explodiert, rückt eine Sondertruppe der Armee ein, befriedet die Stadt und macht endgültig eine leblose Wüste aus der provinzialen Gemeinde. Der Geschwisterstreit nimmt wahrhaft groteske Züge an. Er endet damit, dass Bruder und Schwester ihn zu Geld machen, um den Erlös gemeinsam zu verjubeln. Eine Heimat finden sie nicht mehr.
Götz Schulte, Thomas Lettow © Thomas Dashuber |
Koltès ist in der 110.000 Seelenstadt Metz aufgewachsen. Ein Drittel der Bevölkerung waren Militärs. Wegen der Stahlindustrie in der Stadt gab es zudem einen hohen Ausländeranteil. Der Algerische Befreiungskampf ließ Metz nicht zur Ruhe kommen und die französische Staatsmacht zu immer neuen Repressionen gegen die algerische Bevölkerung greifen. Koltès Credo war dennoch unerschütterlich: „Die Belebung (der Gesellschaft – Anm. W.B.) kommt durch die Gegenwart der Schwarzen und der Araber; sie kommt nicht aus dem tiefsten Frankreich, das eine Wüste ist; da ist nichts Lebendiges.“ (Programmheft S.24) So grotesk und absurd die Geschichte der „Rückkehr in die Wüste“ auch anmutet, sie ist hochaktuell und sehr realistisch, denn die heutigen Zustände werden immer weniger von Vernunft gesteuert, sondern von Propaganda, Lügen und Hass.
Regisseurin Amélie Niermeyer stellte mit ihrer Inszenierung einmal mehr ihre Qualitäten als Theatermacherin unter Beweis. Alexander Müller-Elmau schuf für die zweieinhalbstündige Aufführung einen faszinierenden, magisch veränderlichen Raum, der großbürgerliches Gehäuse, verworrenes Labyrinth und eherne Festung zugleich war. Jan Speckenbachs Videoprojektionen verzauberten die Räume immer wieder aufs Neue. Es entstanden unterschiedlichste magische, fast psychedelische atmosphärische Stimmungen. Wesentlich verstärkt wurde der zauberhafte Eindruck durch die Livemusik von Elisabeth Wirth und Fabian Kalker (Komposition). Ästhetisch war die Inszenierung nahezu perfekt, in sich geschlossen und von großer Suggestion.
Darüber hinaus weiß Amélie Niermeyer auch, wie man ein Maximum aus den Darstellern herausholen kann. Ihr feines Gespür für Witz und Komik ließ nichts verkommen oder verloren gehen. Dabei bediente sie sich so wunderbarer Schauspielvollblüter wie Juliane Köhler als Mathilde oder Götz Schulte als deren Bruder Adrien. Thomas Lettow bewies ebenso überbordendes komödiantisches Talent in der Rolle des Mathieu wie Bijan Zamani als Hausangestellter Aziz. Und endlich wieder einmal konnte man sich an der Darstellung Barbara Melzl ergötzen, die die trunksüchtige zweite Ehefrau Adriens skurril gespreizt darbot. Als mit Ricky Watson „Der große schwarze Fallschirmspringer“ aus dem Bühnenhimmel herabschwebte, folgte Amélie Niermeyer einem Besetzungswunsch Koltès´, dem sehr daran gelegen war, dass diese Rolle von einem farbigen Darsteller gespielt werden sollte.
Die enorme Komik, die in diesem Stück steckt und die Amélie Niermeyer in ihrer Inszenierung freisetzen konnte, beruht vornehmlich auf der Tatsache, dass Koltès kein politisches Anliegen im Sinne von Ideen verfolgte. Vielmehr als Ideen wollte er Menschen auf die Bühne bringen, die wie normale gesellschaftliche Wesen agieren. Deshalb widersprechen seine Stücke auch allen Erwartungshaltungen und verweigern sich nicht selten eindeutigen Interpretationen. „Ich bin nicht da, um die Rätsel der Figuren zu lösen, sondern um sie zu zeigen.“ (Programmheft S. 29)
Das ist natürlich zutiefst undeutsch und so wunderte sich mancher Zuschauer vermutlich darüber, dass ein Thema, das hierzulande seit geraumer Zeit eine tiefe gesellschaftliche Depression erzeugt und einige Krankheiten und Abnormitäten an die Oberfläche spült, mit solcher Leichtigkeit und Heiterkeit über die Bühne ging. Und mancher wunderte sich vielleicht auch, welche großartige Wirkung das hat im Gegensatz zu den täglichen Diskursen die sich inzwischen auch am Theater breit machen. Amélie Niermeyers Inszenierung war nicht nur ein gelungener und wirkungsvoller Beitrag zu genannten gesellschaftlichen Problemen, sondern auch eine Plädoyer für das Theater als „moralische Anstalt“, ohne auch nur ansatzweise moralisierend zu sein. Es war großer Zauber.
Wolf Banitzki
Rückkehr in die Wüste
von Bernard-Marie Koltès
Deutsch von Simon Werle
Juliane Köhler, Götz Schulte, Thomas Lettow, Mathilde Bundschuh, Max Koch, Barbara Melzl, Katharina Pichler, Bijan Zamani, Ricky Watson, Jörg Lichtenstein, Arthur Klemt, Joachim Nimtz, Bayram Celik, Nagdi Nazmi, Musiker (live): Elisabeth Wirth und Fabian Kalker Regie: Amélie Niermeyer |