Residenztheater Heilig Abend  von Daniel Kehlmann


 

Gut, dass wir drüber geredet haben

Was macht eine gelungene Fiktion aus? Eine gelungene Fiktion ist eine frei erfundene Geschichte, deren äußere Umstände, deren innerer Ablauf und deren Psychologie der Protagonisten so logisch sind, dass die Geschichte tatsächlich so passiert hätte sein können. Die Inszenierung unter der Regie von Thomas Birkmeir am Münchner Residenztheater begann damit, dass Judith, gespielt von Sophie von Kessel, mit Handschellen am Siphon eines Waschbeckens gekettet, sich in selbiges übergibt. Ein Siphon ist selbst für einen Laien keine wirkliche Fixierung. Egal. Um 22.30 Uhr am 24. Dezember, also am „Heilig Abend“, betritt der Polizist Thomas den Raum.

Für alle die meinen, es handele sich beim „Heilig Abend“ um einen vom Handel organisierten Jahresschlussverkauf, nein, es ist der vermeintliche Geburtstag, des vermeintlichen Heilands, dessen Existenz nie zweifelsfrei nachgewiesen wurde und der lediglich in einem Buch namens Bibel, dass in der heutigen Form erst dreihundert Jahre nach dessen vermeintlicher Geburt auf Befehl eines römischen Kaisers namens Konstantin in Auftrag gegeben wurde, entstand. Konstantin hatte, vielleicht unter Einfluss von psychedelischen Drogen, vor einer Schlacht im Jahr 312 eine Kreuzerscheinung am Himmel. Das Christentum wurde Staatsreligion, eines der besten Geschäftsmodelle in der Geschichte. Zu Luthers Zeiten, wir feierten den „Ketzer“ gerade aufwendig, gehörten der katholischen Kirche ein Drittel des deutschen Grundbesitzes. Warum die epische Breite, wird sich nun mancher fragen? Weil der „Heilig Abend“ eine plumpe Lüge ist, die vormals als blanke Wahrheit verkauft und inzwischen mit Symbolkraft aufgeladen wurde, weil die historischen Lügen keinen Bestand mehr hatten. Ist es nun ein oberflächlicher Effekt von Daniel Kehlmann, sein Stück „Heilig Abend“ zu nennen, oder glaubt er ernstlich, dass die Suggestion, an diesem Abend finde tatsächlich eine besondere Besinnung auf (das Thema) Frieden statt, verfängt? Egal.

Judith, Philosophieprofessorin, ist von der Polizei aus dem Taxi heraus „zu einer Befragung gebeten worden“. Dann hing sie am Siphon. Ein wesentlicher Faktor des Stücks ist die Zeit. Untertitel: Ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr. Kehlmann setzte in diesem Stück eine Faszination um, die durch den Film „High Noon“ bei ihm ausgelöst wurde. (Regie: Fred Zinnemann, 1952) Darin muss sich ein Sheriff gegen die Zeit auf ein tödliches Duell mit mehreren Bösewichtern rüsten, deren Anführer 12.00 Uhr mittags mit dem Zug ankommt, Handlung in Echtzeit also. Polizist Thomas, eher schlicht gestrickt und mit einer gehörigen Portion aggressiver Blockwartsmentalität ausgestattet, hat bis Mitternacht ganze 90 Minuten Zeit. Wofür? Nun das erfährt man erst nach 30 Minuten. Thomas vermutet, dass Judith und ihr Ex-Mann eine Bombe deponiert haben, um „zur Destabilisierung des Status Quo“ beizutragen.

Die Bombe soll um Mitternacht zur Explosion gebracht werden. Wo ist die Bombe? Immerhin, dreißig Minuten lässt sich Thomas Zeit mit Smalltalk über sich, sein Leben, die Welt und über die Tatsachen, dass nichts, aber auch gar nichts aus dem Leben der Professorin Judith mit gutbürgerlichem Hintergrund und ihrem Ex dem Gesetzeshüter verborgen blieb. Hier hatte sich Daniel Kehlmann von den Aussagen Edward Snowdens, dem letzten echten Helden Amerikas, inspirieren lassen. Illegale revolutionäre Aktivitäten in Lateinamerika wurden ebenso ans Licht der staatlichen Redlichkeit gezerrt wie intimste Geschichten aus der gescheiterten Ehe und dem Leben des Ex-Manns, der, was für eine Überraschung, schon seit 24 Stunden im Nebenraum verhört wurde.

  Heilig Abend  
 

Sophie von Kessel (Judith), Michele Cuciuffo (Thomas)

© Thomas Aurin

 

Darauf kam man nicht zwangsläufig, denn das Bühnenbild von Andreas Lungenschmid ließ gleichsam die Vermutung zu, man befinde sich in einem stillgelegten Kaufhaus, in dem gerade renoviert wird. Große gläserne Trennwände mit teilweise zerrissener Folie abgeklebt, ließen immerhin so viel Durchblick zu, dass dahinter zwei große Trittleitern auszumachen waren. Es stellte sich spontan die Frage, in welchem Land befindet man sich eigentlich, wo Polizeistationen, Repräsentationsgebäude der staatlichen Exekutive so aussehen? Diese Frage wurde noch quälender, als Thomas Judith mit extremer Gewalt zwei Faustschläge in den Unterleib verabreichte. (In Deutschland verlor ein hochrangiger Ermittler im Entführungsfall des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler seinen Job, weil er, um das Leben des Kindes zu retten, dem Mörder Gewalt lediglich angedroht hatte.) Egal.

Nehmen wir einmal an, es handele sich bei dieser Fiktion um so etwas wie einen Versuchsaufbau, um unter Laborbedingung zu brauchbaren, auf die Gesellschaft übertragbare Wahrheiten zu kommen. Judith wählte genau diese Ausrede, als man sie mit einem Pamphlet konfrontierte, das auf ihrem Rechner „versteckt“ war: „Wir bekennen uns zu dieser Aktion, gesetzt zur Mitternacht des vierundzwanzigsten Dezember.“ Es handelte sich nur um ein hypothetisches Theorem, wie Judith zu erklären versuchte, als Basis für ein Seminar, Gedankenspiele, wissenschaftliche Arbeit. Im Stück ging es nun darum, die Frage zu beantworten, ob die Sicherheit in der Gesellschaft gegen Freiheit eingetauscht werden darf. Kehlmann selbst formuliert es in Bezug auf das unbedingte Recht der beiden Protagonisten in einem dramatischen Werk wie folgt: „Ist die Sicherheit der Bürger es wert, die Freiheit zu opfern? Oder ist Freiheit das höchste Gut, das niemals, keinen Schritt weit, preisgegeben werden darf? Die Antwort auf beide Fragen ist natürlich ein klares Ja.“

Hier ist Widerspruch angebracht, denn die erste Frage resultiert aus der gesellschaftlichen Praxis, ein Totschlagargument von Innenminister, Konservativen und „besorgten Bürgern“, die zweite indes ist eine philosophische Frage, immer wieder beschworen von zumeist linken Idealisten, Ethikern oder Richtern des Verfassungsgerichts. In dieser Konstellation und in dieser Gegenüberstellung ist alles möglich, nur keine Wahrheitsfindung. Für einen Theaterabend mag das unterhaltsame Experiment taugen, für die Bewältigung der existenziellen Fragen dieser Welt nicht. Die Welt mag ungeheuer komplex sein und die Vielfalt der Anschauungen über die Welt ist es ebenso. Doch die Triebkräfte, die die Welt bewegen, sind beschämend simpel.

Am Ende aller Aufstände, aller Revolutionen, aller Revolten stehen doch immer wieder nur die Geldströme, allerdings in veränderten Flussbetten. Das ist der ganze banale Sinn von gesellschaftlichen Entwicklungen und die Ideen von der besseren Welt sind theatralische Intermezzi, die zwar unterhaltsam, jedoch der Realität nicht wirklich zuträglich sind. 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte, in der die heute lebende Menschheit vermutlich einmal von menschlicher Hand ausgerottet worden ist, haben dazu geführt, dass sich mehr als die Hälfte des Weltvermögens in der Hand von nur einem Prozent der Menschen befindet. Dass die Politik, wer mag die Krise der Parteienpolitik in Deutschland noch leugnen, dabei zum Hemmschuh geworden ist, will sie sich doch mit nachweislich vergeblichen Regulierungsmaßnahmen ihre Glaubhaftigkeit beim Wähler (Arbeitgeber) erhalten, beweist letztlich die Tatsache, dass die herrschende Klasse (die Besitzenden) die politischen Führer inzwischen selbst stellt, also Milliardäre (politische Blindgänger) Präsidentenämter bekleiden. Selbst im kommunistischen chinesischen Volkskongress ist die Zahl der Millionäre dreistellig und die der Milliardäre beachtlich. Das ist nur aufrichtig und ehrlich, wenngleich unappetitlich, denn wenn Konzernbosse zu Enddarmbewohner dieser politischen Knallchargen mutieren (Siehe unlängst in Davos!), ist der „Zoff“ gleichsam vorprogrammiert. In den letzten 55 Jahren des 20. Jahrhundert, also nach dem 2. Weltkrieg, fanden weltweit 218 Kriege, Bürgerkriege und militärische Konflikte statt. Soviel zur Lernfähigkeit und zum Friedenwillen des Menschen.

Judith hat es sinngemäß auf den Punkt gebracht, wenn sie meint: Fürchtet nicht die Handvoll Terroristen, sondern den Hunger weltweit. Die Leader dieser Welt (Sie vermeiden ganz bewusst das deutsche Wort.) nehmen diesen „Zoff“ gern in Kauf, denn hinter jedem Konflikt und dem Ruf nach innerer/äußerer (ist beliebig) Sicherheit steht ein Geschäftsmodell und wieder baden wir in den Strömen des Geldes. So schießen in Syrien Kurden, für die Türken sind sie Terroristen, für alle anderen Kurden Freiheitskämpfer, mit deutschen Panzerabwehrraketen auf deutsche Leopardpanzer, gesteuert von türkischen Armeeangehörigen, für die Türken sind sie Patrioten, für viele andere Schergen eines Diktators. Egal, wie der Konflikt ausgeht, ein Gewinner steht bereits fest. Bitte ein Tusch! The winner is: Die deutsche Wirtschaft. Schamgefühl? Egal.

Und noch ein desaströser Fauxpas durfte der Zuschauer an diesem Abend erleben, nämlich als Polizist Thomas seinen Halfter samt Waffe über jenen Stuhl hängte, auf dem Judith saß. So blöd kann doch kein Polizist sein, der seinen Beruf gelernt hat. Es haperte jedoch nicht nur an manchen szenischen Einfällen, sondern durchaus auch an der Anlage der Rollen. Während Michele Cuciuffo einen durchwegs glaubhaften und angesichts der intellektuellen Überlegenheit seiner Gegenspielerin trotzdem einen überaus witzigen Polizisten gab, dessen physische und sprachliche Präsenz die Inszenierung über weite Strecken allein trug, versetzte die Eintönigkeit Sophie von Kessels Judith einige Male in Erstaunen. Bei dieser Figur handelte es sich um eine hartgesottene Revoluzzerin, die nicht nur über Erfahrungen im Widerstand (Peru und Chile, wo man nicht zimperlich mit Systemkritikern umging) verfügte, sondern auch über die intellektuelle Überlegenheit dank eines Instrumentariums philosophischer Argumente. In der Werbung zum Stück wurde vorab ein Schlagabtausch beschworen, der Thomas, den Vertreter der systemischen Macht, in eben jene Enge treiben sollte, die ihm intellektuell eigen ist. Dem war keineswegs so. Vielmehr verkörperte Sophie von Kessel eine ängstliche und hysterische Frau, der weder ihre intellektuelle Fähigkeit noch ihr Wissen um revolutionäre und konspirative Methoden zu einer spielerischen Überlegenheit verhalfen. Wäre diese Überlegenheit sichtbar geworden, wäre wenigstens der plötzliche Gewaltausbruch des Staatsdieners glaubhaft(er) gewesen.

Das Stück steht auf schwankendem Boden und brachte eines mit Gewissheit nicht, einen Zuwachs an brauchbaren Einsichten. Es ist ein sprachlich ausgefeilter Betrag mit einigen verblüffenden Wendungen und einem Erinnern an Frantz Fanon zum Thema unserer Zeit. Terrorismus. Welchen Raum nimmt der Terrorismus real in unserer Gesellschaft ein? Einen kaum messbaren! Wenn Kehlmann von Gefangenschaft spricht, dann beschwört er eine Gefangenschaft, die bewusst und unbewusst von kleinen Teilen der Gesellschaft erzeugt wird und die nur in unseren Köpfen stattfindet. Es mag sich jeder selbst befragen, in wieweit er sich freiwillig in dieses Gefängnis begeben hat. Genau an diesem Punkt beginnt nämlich der Bürger seine Freiheit abzutreten. Egal? Aber gut, dass wir darüber geredet haben …

Wolf Banitzki

 


Heilig Abend

Ein Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr
von Daniel Kehlmann

Sophie von Kessel und Michele Cuciuffo

Regie: Thomas Birkmeir

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