Residenztheater Don Karlos von Friedrich Schiller


 

Gedankenfreiheit braucht Freiheitsfähigkeit

Kaum ein anderes Werk trieb Friedrich Schiller so um wie „Don Carlos“. 1782 mit der Idee infiziert, begann er die Arbeit ein Jahr später mit dem Vorsatz, daraus ein politisches Drama zu machen, in dem die Inquisition an den Pranger gestellt werden sollte. Als Schiller nach einer einjährigen Pause im Jahr 1784 erneut daran ging, das Thema literarisch zu gestalten, merkte er an, es sei kein politisches Stück, sondern „ein Familiengemälde aus fürstlichem Hause“. Im März 1785 veröffentlichte Schiller teilweise die ersten drei Akte, zuletzt im Dezember 1786 im vierten Heft der von Göschen in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift „Thalia“. Dieser, als „Thalia-Fassung“ in die Literaturgeschichte eingegangener Wortlaut, enthielt wesentlich stärkere antidespotische und antiklerikale Tendenzen als die letzte, kurz vor der Uraufführung entstandene (vorläufige) letzte Fassung vom Juli 1787. Schiller hatte darin viele radikale Positionen zurückgenommen oder abgemildert. Politische Rücksichten schienen ihm geboten; auch er musste seine Brötchen verdienen. Dennoch entstand die letzte Theaterfassung des Dramas erst in den Jahren 1801 und in seinem Todesjahr 1805. Die Gründe für die beinahe lebenslange Bearbeitung des Sujets war nicht zuletzt der Entwicklung des Dichters selbst geschuldet, der dreiundzwanzigjährig eine große Liebesgeschichte entdeckte, später viel politischen Sprengstoff wahrnahm und zuletzt seine klassisch-humanistische Grundhaltung über die Figur des Marquis von Posa definierte.

Die Uraufführung am 29. August 1787 und die folgenden Aufführungen in Mannheim, Leipzig und Berlin riefen eine aufgebrachte Kritik auf den Plan und Schiller sah sich veranlasst, in den „Zwölf Briefen zu Don Carlos“, herausgegeben von Wieland in „Der Teutsche Merkur“, das Drama, sich selbst und seine künstlerischen Ansätze und Absichten zu erklären. An dieser Stelle ist es reizvoll, einmal einen Blick in die Thalia-Fassung zu werfen, um das kühne Ausmaß der Schillerschen Angriffe, vornehmlich auf den Klerus zu verstehen. In der 1. Szene des 1. Aktes begegnet Don Carlos dem Beichtvater des Königs, Domingo, und begrüßt ihn wie folgt: „Bist d u nicht der Dominikanermönch, / Der in der fürchterlichen Ordenskutte / den Menschenmäkler machte? Bin ich irre? / Bist d u es nicht, der die Geheimnisse / der Ohrenbeichte um bares Geld verkaufte? / Bist d u es nicht, der unter Gottes Larve / Die freche Brunst in fremdem Ehebett löschte, / Den heißen Durst nach fremdem Golde kühlte, / Den Armen fraß und an dem Reichen saugte? / Bist d u es nicht, der ohne Menschlichkeit, / Ein Schlächterhund des h e i l i g e n G e r i c h t e s, / Die fetten Kälber in das Messer hetzte? / Bist d u der Henker nicht, der übermorgen, / Zum Schimpf des Christentums, das Flammenfest / Des Glaubens feiert und zu Gottes Ehre / Der Hölle die verfluchte Gastung gibt? / Betrüg ich mich. Bist d u der Teufel nicht, / Den das vereinigte Geschrei des Volkes, / Des Volks, das sonst an Henkerbühnen sich / Belustigt und an Scheiterhaufen weidet, / Den das vereinigte Geheul der Menschheit / Aus dem entweihten Orden stieß (…)“

Es ist schwer vorstellbar, dass Schiller seinerzeit, die katholische Kirche saß fest im Sattel, damit durchgekommen wäre. Doch bei genauerer Betrachtung hat sich doch in den zweihundert Jahren in Bezug auf die Kirche, recht wenig getan. Sie hat noch immer eine unheilige Allianz mit der Politik (der Staat treibt für die Kirche die Steuern ein), die Kirche ist als Bewahrer der hohen Moral kein Deut glaubhafter geworden (massenhaft missbrauchen Priester Kinder und auch den Exorzismus gibt es noch immer) und sie ist letztlich eines der am besten funktionierenden Geschäftsmodelle. Das Vermögen der katholischen Kirche macht schwindelig. Geschätzt: 250 Milliarden in Deutschland, mehr als VW, BMW und Daimler zusammen. Was hat sich also geändert seit Schiller? Die Scheiterhaufen sind nicht mehr öffentlich, im metaphorischen Sinn gibt es sie noch. Dabei ist es im Grunde ja völlig egal, wer die Macht im Lande ausübt, wenn sie denn vormundschaftlich und despotisch ausgeübt wird.

Das Thema ist aktuell, brandaktuell, und das zeigte auch Martin Kušejs Inszenierung am Residenztheater. Nachdem der Vorhang (3. Vorstellung) aufgegangen, die Bühne in pechschwarzes Dunkel getaucht war, erschienen aus den Gassen surrend zwei Drohnen, die Umgebung und auch das Publikum scannend. Die Botschaft war leicht verständlich. Der Staat wurde als ein despotischer, sein Volk als ein überwachtes ausgemacht. Dunkle Geschalten tauchen auf und entsorgen gepeinigte Menschen in ein Loch auf der Bühne. Wasser spritzte auf, vermutlich der Fluss der Geschichte, der seit Jahrtausenden die Opfer der Willkür davon schwemmt. Zwei knappe Szenen und wichtige Pflöcke waren eingeschlagen. Ein politisches Drama sollte kommen.

  Don Karlos  
 

Thomas Loibl (Philipp II)

© Matthias Horn

 

Friedrich Luft schrieb 1950 anlässlich einer, seiner Ansicht nach gescheiterten „Don Carlos“-Inszenierung von Fritz Kortner am Berliner Hebbel-Theater: „Wer den ‚Carlos‘ spielt, muß sich entschließen. Er kann die Carlos-Posa-Tragödie in den Vordergrund nehmen, er kann das Phillip-Posa-Dilemma von Macht und Freiheit nach vorn rücken. Er kann, was selten geschieht, das Carlos-Elisabeth-Drama herausschälen.“ Hier irrte der Meister, denn Martin Kušej gelang es, ohne das Drama in irgendeiner Hinsicht zu vernachlässigen, alle Konflikte gleichermaßen aufs Tapet zu bringen und im Rahmen der Schillerschen Möglichkeiten, das Stück hat durchaus seine Tücken, auch zu bewältigen. Dass die reine Spielzeit vier Stunden dauerte, sollte dabei keinesfalls verschrecken. Spannend war es allemal.

Und grandios anzuhören war es ebenso, denn der Schillersche Vers wurde in seiner ganzen Schönheit, Intelligenz und seinem furiosen Duktus gesprochen. Das Bühnenbild von Annette Murschetz war gleichsam gewaltig und ebenso reduziert. Der einzige, immerhin sehr ausladende Innenraum, durch die Drehbühne sichtbar und unsichtbar gemacht, erinnerte an eine Mischung aus schalldichtem Studio/Verhörraum/Bollwerk und „Eiserne Jungfrau“, einem Folterkasten dessen Innenseiten mit eisernen Dornen bewehrt waren. Kaltes farbiges Licht disqualifizierte diesen Raum als Lebensraum. Ebenso kalt war das Licht der Macht, ausgegossen durch und von einem großen quadratischen Kristalllüster über schwarzer Bühne. Das vorherrschende Element war die Dunkelheit und das nicht von ungefähr, denn das Meiste, was auf der Bühne verhandelt wurde, musste das Licht scheuen.

Der Text ist so reich, so opulent, dass er keinerlei Überhöhung oder Illustrierung bedarf. Eine schlanke Darstellung, wie Kušej sie abrief, war ein gelungenes Maß. Ebenso maßvoll waren auch die Kostüme von Heide Kastler, über die Parallelen zur der Gegenwart zitiert, aber auch das Pathos der Stehkragen-Klassik präsentiert wurden, um letztlich, vermittelst Renaissancekostümen, daran zu erinnern, dass es sich um eine historische Begebenheit handelt, deren Wesen sich jedoch wie ein Wurm durch die Geschichte schlängelt. Manfred Zapatka trug als alternder und an der Schwelle des Todes stehender Großinquisitor mit Herzbeschwerden und heftigem Schütteltremor eine alltägliche Wachsjacke. Sein Zynismus war kaum mehr zu überbieten: Er verkörperte den großen Zorn der hinlänglich bekannten, alten, weißen Männer, die ihre eherne Ordnung bedroht sehen!

Alles waren Zeichen und alle machten Sinn. Und über allem schwebte ein bedrohlich grollender Klang (Musik Bert Wrede), der nicht Gutes verhieß. Das Licht von Tobias Löffler war ein echter Aktivposten im Ringen um künstlerische Überhöhung. Die grafischen Bilder aus Schwarz und Anthrazit, erzeugten dennoch keine Holzschnitte, sondern betonten die wichtigen und bei aller Düsternis wahrnehmbaren Nuancen im Spiel. Alles erhellendes Licht gab es nur ein Mal, als Marquis von Posa, wer sonst als Franz Pätzold, Philipp II., Thomas Loibl hatte ein wenig vom Wahnsinn seines Macbeth (Inszenierung A. Kriegenburg) hineingelegt, seine bekenntnishafte Rede hielt, in der er erklärte: „Ich kann nicht Fürstendiener sein“, und in der er schließlich forderte: „Geben Sie Gedankenfreiheit.“ Franz Pätzold beendete seine Rede mit einem dezenten Seufzer der Befreiung, ein schauspielerischer Geniestreich, der vermied, dass das Pathos, das durchaus Gänsehaut erzeugte, intellektuelle Ohnmachten bewirkte.

Einen ähnlich bemerkenswerten Auftritt hatte Meike Droste in der Rolle der Eboli. Diese Figur ist im Wesentlichen für den Untergang von Posa und Don Carlos mitverantwortlich. Als verschmähte Liebende muss sie erkennen, dass Don Carlos, heißblütig und emotional überschäumend von Nils Strunk gespielt, seine Stiefmutter liebt. Die Erkenntnis, welche Sprengkraft dieses Wissen hat, ließ sie augenblicklich zu einem Racheengel alttestamentarischen Ausmaßes wachsen. Nicht unerwähnt sollte auch die Darstellung des Herzogs von Alba durch Marcel Heuperman bleiben, der einen dümmlich tönenden, eitlen und in höchster Not auch physische Feigheit signalisierenden Großkopferten spielte.

Martin Kušej war es gelungen, die tragische Liebesgeschichte zwischen Elisabeth von Valois, moralisch makellos und rein von Lilith Häßle gegeben, und Don Carlos emotionsgeladen zu erzählen. Die wurde verwoben mit der tödlichen Freundschaft zwischen Posa und Carlos, in der die Liebe zwischen zwei gleichgesinnten Freunden, ein heute kaum mehr bekanntes Gefühl, noch ein erhebliches Gewicht hatte. Und es wurde der barbarisch anmutende Konflikt zwischen den Generationen, repräsentiert von Philipp und Carlos, abgehandelt, vor dem man fassungslos resigniert, denn er ist historisch weitestgehend verbrieft. Der Rest war Lüge, Intrige und Feigheit, seelische Verkümmerung und Speichelleckerei, Machbesessenheit und Empathiefreiheit. Die politische und soziale Freiheit des Individuums wurde indes nicht erlangt. Davor war die Inquisition.

Eine Erkenntnis Friedrich Schillers in der Auseinandersetzung auch mit diesem Stoff war seinerzeit mehr als ernüchternd, erlebte er in seinen letzten Jahren den Niedergang der französischen Revolution, in die er so große Hoffnungen gesetzt hatte. Und auch diese Erkenntnis betrifft das Hier und Jetzt. Nach Schiller muss der Mensch zur „Freiheitsfähigkeit“ erzogen und gebildet werden. Dabei setzte er auf die pädagogische Wirkung der Kunst. Seine Forderung sollte auch heute noch keinesfalls unbeachtet bleiben. Die Folgen der „Freiheitsunfähigkeit“ bei gleichzeitiger (relativer) Freiheit des Individuums treten in der heutigen Gesellschaft überdeutlich zutage, machen uns täglich aufs Neue fassungslos. „Gedankenfreiheit“ braucht „Freiheitsfähigkeit“. Ist die nicht gegeben, führt dieser Zustand nach Schiller zur „Diktatur des Pöbels“, und zwar zielsicher, wie die Geschichte zeigt.

Wolf Banitzki

 


Don Karlos

von Friedrich Schiller

Thomas Loibl, Lilith Häßle, Nils Strunk, Max Koch, Tim Werths, Anna Graenzer, Meike Droste, Franz Pätzold, Thomas Gräßle, Marcel Heuperman, Thomas Lettow, Wolfram Rupperti, Christian Erdt, Manfred Zapatka

Regie: Martin Kušej