Residenztheater Endspiel von Samuel Beckett


 

Topografie des Unglücks

Es ist und bleibt schwer vorstellbar, dass Becketts Werke autobiografische Hintergründe haben. Doch es ist so und Beckett war ein Meister der Verschleierung. Dies gelang ihm vornehmlich durch die artifizielle Überhöhung der Figuren und der Situationen, in denen die Figuren existieren und vegetieren. „Endspiel“ ist eines seiner zwei Lieblingswerke. Das andere ist der Roman „Der Namenlose“. In letzterem, in dem der Leser „gefährlich nahe an die Grenze der Unlesbarkeit“ gerät (Alfred Alvarez), wird peinlich offenkundig wie sehr Beckett in den Gefühlen der Abhängigkeit, der Schuld und der Vernachlässigung seiner im Sterben begriffenen Mutter gefangen war. Er schrieb den Roman „Der Namelose“ aus den tiefsten Tiefen seines Unterbewusstseins heraus. „Endspiel“, das mit diesem Vorgang eng verwoben war, steht hingegen für eine Phase geistiger Objektivierung. Beckett hatte das „Ende“, hier den Tod, in zweierlei Hinsicht vor Augen. So oft er es einrichten konnte, besuchte Beckett seine Mutter.

Unter Wahrung größtmöglicher Diskretion verband er mit diesen Reisen auch Besuche bei Frances Sinclair, genannt Cissie, geborene Beckett und enfant terrible der Familie. Sie hatte in Paris Kunst studiert, war eine hochbegabte Malerin, und sich mit dem lebenslustigen, aber mittellosen Sohn eines jüdischen Antiquitätenhändlers verheiratet. Für die Familie war dies eine unerträgliche Mesalliance. Cissie war an rheumatischer Arthritis erkrankt, gänzlich gelähmt an einen Rollstuhl gefesselt und auf Hilfe angewiesen: „Sei so gut und richte die Statue auf, ja?“ Beckett fuhr seine Tante an der Küste bei Raheny häufig spazieren. Dabei musste er oftmals Steigungen überwinden und sich dabei genauso beugen wie Clov, wenn er Hamm über die Bühne schiebt. Seine Besuche gehörten zu den wenigen Glücksmomenten die Cissie noch hatte. Sie vegetierte in einem düsteren Haus ihrem Tod entgegen und gelegentlich beobachtete sie mit einem Fernrohr, das sie von einem Bohemien namens Old Tom Casement geschenkt bekommen hatte, den Schiffsverkehr in der Dublin Bay oder das Treiben der Vögel beim Gezeitenwechsel. Samuel Beckett litt sehr unter der Vorstellung von der peinvollen Existenz seiner Tante, die ihm näher stand als viele andere Familienmitglieder.

Sowohl das düstere Haus, als auch das Fernrohr und der Rollstuhl finden sich in „Endspiel“ wieder. Im Rollstuhl hockt Hamm, blind und außer Stande sich zu erheben. Sein Mitstreiter oder auch Gegenspieler ist Clov, der sich aufgrund seiner steifen Beine nicht setzen kann. Als Diener ist der selbstbewusste und eigensinnige Mann nur bedingt auszumachen, und wenn, dann spielt Clov den Diener. Alles ist als Spiel konzipiert. Das wird im Text auch mehrfach explizit betont. In zwei verzinkten Mülltonnen im selben Raum leben Hamms Eltern, Nagg und Nell. Im Verlauf des Stücks wird eine Topografie des Unglücks entworfen. Alles hat aufgehört zu sein, nichts weist darauf hin, dass es irgendwie weitergehen wird. Das Ende ist gekommen oder es wird kommen oder es entwickelt sich in die Richtung, dass es kommen wird. Genaues weiß man nicht. Wohin also mit seiner eigenen Existenz? Der Disput gestaltet sich irrsinnig komisch, beispielsweise, wenn Hamm fragt: „Hast du es nicht satt?“, und Clov wie aus der Pistole geschossen antwortet: „Doch!“, um nach einer kurzen Pause nachzufragen: „Was denn?“ Dabei scheinen beide auf geradezu schicksalhafte Weise miteinander verkettet zu sein, ein Prinzip, das sich immer wieder im Werk Becketts findet. Man denke nur an Wladimir und Estragon in „Warten auf Godot“ oder an „Mercier und Camier“ im gleichnamigen Roman. Es sind die Banalitäten des Daseins, die diese Ketten schaffen, ablesbar an Dialogen wie folgendem: Hamm: „Warum tötest du mich nicht?“ Clov: „Ich weiß nicht, wie der Speiseschrank aufgeht.“

Grundthema ist das Unglück und die daraus resultierende Komik, die allerdings kaum mehr zum Lachen reizt. Nell, Hamms Mutter, erklärt es wie folgt: „Nichts ist komischer als das Unglück, (…) es gibt nichts Komischeres auf der Welt. Und wir lachen darüber, wir lachen darüber, aus vollem Herzen, am Anfang. Aber es ist immer dasselbe. Ja, es ist wie bei einem Witz, der einem zu oft erzählt wird, man findet ihn immer gut, aber man lacht nicht mehr darüber.“ Das konsequente Spiel bis zum Ende hat nur einen Sinn, den Schmerz nicht fühlen zu müssen. Hamm, dominant und auch ein wenig machtlüstern, unterstellt Clov: „Du hältst dich für gescheit, nicht?“ Doch Clov ist Realist: „Gescheitert!“ Eine Menge ist möglich in den Dialogen und Disputen, selbst in den Geschichten die erzählt werden, nur eines nicht, ein Entrinnen. Diese existenzialistische Haltung ist schwer auszuhalten und darum heißt es: Spielen!

  Endspiel  
 

Franz Pätzold, Oliver Nägele

© Thomas Aurin

 

Anne Lenk hat das durch viele Metamorphosen gegangene Stück Becketts, erst in der dritten Fassung hatten die Figuren Namen, sehr textgetreu auf die Bühne des Residenztheaters gebracht. Dabei unterschritt sie selbst die Beckettsche Kargheit, die dieser immer wieder in Bezug auf Ausstattung forderte. Es gab so gut wie keine Requisiten. Alles wurde gespielt, selbst die Leiter, die Clov immer wieder erklomm, um mit dem nicht vorhandenen Fernglas durch die ebenso wenig existenten Fenster zu schauen, damit Hamm von den Vorgängen außerhalb des Raumes Kenntnis erhielt. Selbst der Raum wurde nur gespielt. Das gänzlich in Schwarz gehaltene Bühnenbild von Judith Oswald wies lediglich ein Dach auf, das den nicht begrenzten Raum behauptete. Das Stück begann unter düsteren und unheilverheißenden Klängen (Musik: Maximilian Loibl) mit einem schwarzen Ascheregen, der die ganze Bühne bedeckte. Anne Lenk folgte nicht der ersten Regieanweisung Becketts, die da lautet: „In der Mitte sitzt Hamm (…). Clov steht regungslos (…).“ Frau Lenk ließ Oliver Nägele als Hamm und Franz Pätzold als Clov auftreten und ihre Positionen einnehmen, womit sie klar und deutlich artikulierte, das Ganze ist ein Spiel! Diesen Ansatz verfolgte sie konsequent und das machte die Geschichte ein stückweit erträglich und nicht gar so schwer verdaulich. Denn obgleich das Stück wahnwitzig komisch ist, war Beckett stets bemüht, die vierte Wand und damit eine distanzierte Betrachtung zu erhalten und das Lachen nicht in den Zuschauerraum schwappen zu lassen. Die Aussage Becketts: „Ich möchte, dass in diesem Stück viel gelacht wird. Es ist ein Spielstück.“ bedeutet, dass die Darsteller auf der Bühne viel lachen sollen, nicht aber das Publikum.

Anne Lenk hat es nicht darauf angelegt und sich auch nicht dazu verführen lassen, das Publikum wie heute allenthalben üblich zu erheitern. Das ist ihr über weite Strecken auch tatsächlich gelungen, trotz der zum Teil zwingenden Komik. Und das ist unbedingt eine der herausragenden Qualitäten der Inszenierung. Abweichungen von Becketts Vorgaben sind immer ein Risiko, denn Becketts Stücke sind nicht frei interpretierbar, sondern mathematisch genau durchgearbeitet. Abweichungen führen häufig unweigerlich zum Scheitern. Vielmehr kommt es darauf an, demütig die Figuren zu ergründen und adäquat zu gestalten. Sie sind hochkomplex und sehr kompliziert. Sich darüber hinwegzusetzen und sie neu zu erfinden, bedeutet bei Beckett zumeist, das Stück zu zerstören, denn das Stück erzählt keine Geschichte, vermittelt keine Botschaft, sondern entkleidet den Betrachter aller seiner Vorurteile, seiner Illusionen und Lebenslügen. Das macht Becketts Werk so besonders und Anne Lenk ist es gelungen, Becketts „Endspiel“ auf die Bühne zu bringen und nicht eine individuelle Vorstellung Anne Lenks von Becketts „Endspiel“.

Sie hätte dabei die Rollen kaum besser besetzen können. Oliver Nägeles Hamm lebte von der bloßen Präsenz, denn bis auf ein einmaliges die Beine übereinander schlagen blieb ihm jegliche körperliche Gestaltung weitestgehend versagt. Nägeles Stimmgewalt kann auf Körperlichkeit, und er ist immerhin gesegnet mit Körperlichkeit, durchaus verzichten. Diese streng definierte Prämisse, und damit es kein reines statuarisches Deklamationstheater wurde, machte Franz Pätzold mit seiner kontrastreichen Gestaltung des Clovs wett. Es war eine Augenweide, seine Steifbeinigkeit, seine nervöse Agilität zu beobachten. Seiner abgeklärten Stimmlichkeit, nüchtern punktgenau zu reagieren und damit jede komische Nuance, jeden Wort- und Situationswitz auszustellen, gebührt höchstes Lob. Ulrike Willenbacher und Manfred Zapatka als Nell und Nagg hockten nicht in Mülltonnen, sondern stiegen aus dem Boden auf. Ihre Existenzen waren unterirdisch und gleichsam dem Leben abgewandt, auf wenige vitale Bedürfnisse wie essen, sich kratzen und dürftig erinnern reduziert. Doch auch ihre wenigen „Auftritte“ waren sehens- und hörenswert.

Es war eine gelungene Inszenierung, die sich durch ästhetische Geschlossenheit und bestem darstellerischen Können auszeichnete. Es ist nicht einfach, die Werke Becketts und das Wort Kurzweil in Zusammenhang zu bringen. Bei dieser Inszenierung konnte man es getrost tun und das, ohne dass dem Werk Gewalt angetan wurde. Was die Botschaft des Abends anbelangt, mit der man als Zuschauer allzu gern das Theater verlässt, sei angemerkt, solange irgendwo, irgendwie noch gespielt wird, vor allem so gut (!), ist das Ende noch nicht da.

Wolf Banitzki

 


Endspiel

von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven

Mit: Oliver Nägele, Franz Pätzold, Ulrike Willenbacher, Manfred Zapatka

Regie Anne Lenk
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