Elektra

Residenztheater  Elektra von von Hugo von Hofmannsthal


Allemal spektakulär

Elektra war Zeugin geworden des Mordes an ihrem Vater Agamemnon. Klytämnestra, Elektras Mutter, hatte die Tat gemeinsam mit Ägisth begangen, der von Agamemnon vor seiner Abreise nach Troja zum Verwalter Mykenes ernannt worden war und der die Königin in den zehn Jahren der Abwesenheit des Hausherren zu seiner Geliebten gemacht hatte. Klytämnestra hatte zwei gute Gründe für diese Bluttat. Der erste war die Opferung der gemeinsamen Tochter Iphigenie für günstigen Wind für den Segeltörn in den trojanischen Krieg. Der zweite Grund war die Tatsache, dass Agamemnon die junge trojanische Königstochter Kassandra als Kriegsbeute mitgebracht hatte. Viele Männer wurden für weniger gemeuchelt. Doch der Gattenmord wog schwer.

Elektra ist einzig von dem Gedanken an Rache beseelt und hofft auf den Bruder Orest, der fern von Mykene in Sicherheit gebracht worden war. Als er endlich nach Jahren heimkehrt, vollstreckt er die Rache an der Mutter und deren Liebhaber und wird wegen Muttermords vor Gericht gestellt. In Aischylos´ „Orestie“, der ersten dramatischen Fassung des Themas, weigert sich Athene, ein göttliches Urteil zu fällen und überträgt den Auftrag der Urteilsfindung an die Menschen. Damit dokumentierte der erste große Dramatiker Europas einen fundamentalen Quantensprung in der Entwicklung des menschlichen Denkens, den Übergang von der Blutrache zur Rechtsprechung. Daher kann die „Orestie“ nicht hoch genug geschätzt werden.

Hugo von Hofmannsthal vollendete seine Fassung von „Elektra“ im Jahr 1903. Es war die Hochzeit der Psychoanalyse und einer Literatur der psychologischen Innenschau. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Hofmannsthal Elektra und ihre pathologischen Rachegelüste in den Vordergrund rückte, die gesellschaftliche Dimension des Themas allerdings auf das Private verkürzte. Regisseur Ulrich Rasche brachte die auf vier Personen plus Chor eingedampfte Tragödie, die Richard Strauss für seine gleichnamige Oper als Libretto diente, auf spektakuläre Weise auf die Bühne des Münchner Residenztheaters. Das Ergebnis war weniger eine Schauspieltragödie als vielmehr eine Sprechoper. Monika Roscher hatte eigens dafür eine Komposition erarbeitet und zugleich musikalische Leitung inne. Ein sechsköpfiges Orchester begleitete das zweistündige Spiel durchgängig. Der musikalische Part war dem Thema zwar untergeordnet, verstärkte aber die gesprochenen Texte und Gänge enorm.

Ein wesentliches Merkmal der Inszenierung war ein durchgängiger, wuchtiger Rhythmus, der bis zur letzten Sekunde durchgehalten wurde. Damit folgte Ulrich Rasche auch in dieser Inszenierung seinem künstlerischen Prinzip der Rhythmisierung. In „Die Räuber“ von Schiller hatte er eine gewaltige heb- und kippbare, mehrspurige Straße auf die Bühne gebracht. Die Inszenierung war zu den Berliner Festtagen eingeladen worden, konnte allerdings nicht in die Hauptstadt reisen, da das Bühnenbild zu gewaltig war. Für „Elektra“ hatte Rasche wieder eine monströse Theatermaschine bauen lassen, nur, im Gegensatz zu „Die Räuber“, wo die Darsteller unentwegt in Richtung der Straße (die auch auf der Bühne gedreht wurde) marschierten, stapften die Darsteller in „Elektra“ schweren Schrittes unentwegt, vornehmlich im Gleichschritt, im Kreis. Dabei wurde das kreisrunde Tableau gedreht und da es zu einer Seite hin abschüssig war, geschah alles ständig auf unterschiedlichem Höhenlevel mit unterschiedlicher Einsicht.

 
  Elektra  
 

Ensemble

© Thomas Aurin

 

Damit war Rasche gar nicht weit von Hofmannsthals Vorstellungen bezüglich des Bühnenbildes entfernt, der in den „Szenische Vorschriften zu ‚Elektra‘“ gefordert hatte: „Der Charakter des Bühnenbildes ist Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit.“ Rasches transparenter Turm ließ sich nach oben hin öffnen und gewährte somit Einblick. Letztlich war der Ort, hier der Palast von Mykene, ein geschlossener Ort, der gleichsam stellvertretend für das wahnhafte Gefängnis stand, in dem Elektra ihr rachedurstiges Dasein fristete. Auch was die Kostüme betraf, schien sich Kostümbildnerin Romy Springsguth zumindest in Bezug auf die Elektra, gespielt von Katja Bürkle, an Hofmannsthals Vorgabe gehalten zu haben. Der verlangte: „Elektra trägt ein verächtliches elendes Gewand, das zu kurz für sie ist. Ihre Beine sind nackt, ebenso ihre Arme.“

Noch konsequenter als in „Die Räuber“ hatte Rasche die expressionistische Sprache Hugo von Hofmannsthals dem Marschrhythmus angepasst. Das schlug zwingend in den Bann und übertrug sich schnell auf die Zuschauer. Allerdings mangelt es der Tragödie an Handlung und so setzten spätestens zur Hälfte der Inszenierung Ermüdungserscheinungen beim Zuschauer ein. Anders als in „Die Räuber“, wo auch mal eine Stadt überfallen und gebrandschatzt wurde, wird in Hofmannsthals Tragödie zu gut drei Vierteln der Zeit psychologisiert. Es beginnt damit, dass sich Elektra erklärt. Sie beklagt das Fehlen des Vaters, den sie ganz offensichtlich nicht besonders gut gekannt zu haben schien, und sie beklagt die Mordtat und die unerträglichen Zustände, mit den Mördern dieselbe Luft atmen zu müssen. Katja Bürkle wehklagte mit der ihr eigenen Expression, hart, unerbittlich und schmerzensreich.

Dann sah sich Elektra mit der Schwester Chrysothemis, nicht weniger kraftvoll von Lilith Häßle gestaltet, konfrontiert, die sich weigerte, den Pfad der Rache zu beschreiten. Vielmehr reklamiert sie für sich endlich ein normales Leben, ein Leben mit den Freuden der Liebe und auch des Vergnügens. Doch Elektra vergiftete unentwegt die Atmosphäre am Hof und ließ niemand aus, erst recht nicht die Mutter, Klytämnestra, die Mörderin des Vaters und Gatten. Juliane Köhler fand leidvollere Töne, denn für sie war die Verdrängung überlebenswichtig. Sie sah sich zu Unrecht angeklagt, fand indes keine wirklich überzeugenden Argumente, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Nach fast eineinhalb Stunden endlich erschien Orest, auf ähnlich intensivem und hohem emotionalen und stimmlichen Level agierend, gespielt von Thomas Lettow. Erst vermeldete er den Tod Orests, um die Schwester zu prüfen, und dann gab er sich zu erkennen. Es folgte der Racheakt, die Tötung Klytämnestras und Ägisths. Bei Hofmannsthal ist es eine aktionsgeladene Szene mit viel Geschrei und Tumult, bei Rasche ist es Behauptung, knappe Schilderung und vergleichsweise schnell vorüber.

Am Ende von Ulrich Rasches Inszenierung blieb Katja Bürkle allein zurück auf dem Tableau. Sie wanderte weiter, nackt, ganz auf sich zurückgeworfen. Ihr Wahnsinn hat sich erfüllt. Ihr Weg war zu Ende. Umso verwunderlicher war es, dass sie dennoch weiter wandern musste. Das Tableau drehte sich unverdrossen, obwohl kein Antrieb für irgendeine Handlung mehr war. Im Raum hängen blieben die Worte einer Frau, deren Lebenskreis, ein einziger Rachefeldzug, endete, ohne dass sich eine neue Qualität, ein Ergebnis eingestellt hätte. „Ich habe Finsternis gesät / und ernte Lust über Lust. / Ich war ein schwarzer Leichnam / unter Lebenden, und diese Stunde / bin ich das Feuer des Lebens und meine Flamme / verbrennt die Finsternis der Welt.“ Die „Erlösung“ ist ein Schimäre, entsprungen einem vergifteten Geist, der bis zum Schluss keine Klarheit erlangt. „Wenn einer auf mich sieht, / muß er den Tod empfangen oder muß / vergehen vor Lust. / Seht ihr denn mein Gesicht? / Seht ihr das Licht, das von mir ausgeht?“

Als die Szene endlich in Finsternis tauchte, war es auch ein stückweit Erlösung für das Publikum, denn was Rasche den Zuschauern abverlangte, grenzte für manchen an ein Martyrium. Dabei war es weniger die Geschichte, die quälend war, sondern der inszenierte physische Druck, die Unentrinnbarkeit aus dem mitreißenden Rhythmus, die Wucht der expressionistischen Sprache und der Mangel an szenischer Differenzierung. Es war die erdrückende Anziehung aus all dem Genannten, der eine letzte tiefe Auslotung des sensiblen Inhalts verhinderte. Und es war ein großes Spektakel, in dem die Äußerlichkeiten jeden Rahmen sprengten.

So verließ man die Vorstellung nicht mit eindeutigen Empfindungen oder Einsichten. Auch blieben wenige szenische Details haften und die eigentliche psychologische Geschichte rückte zu weit in den Hintergrund. Schade, meint man angesichts der Geschlossenheit von Inhalt und Form bei „Die Räuber“. Bilder aus dieser Inszenierung sind noch immer deutlich präsenter als Bilder aus der gerade gesehenen „Elektra“. Es stellt sich die Frage, ob Hofmannsthals Tragödie für eine derartige ästhetische Umsetzung tatsächlich geeignet ist? Immerhin war die Inszenierung finanziell bestimmt kein Schnäppchen. Aber, so ist das nun mal in der Kunst, schließlich muss man es erst ausprobieren, um am Ende zu wissen, ob es sich gelohnt hat. Spektakulär war es allemal.

Wolf Banitzki


Elektra

von Hugo von Hofmannsthal

Mit: Katja Bürkle, Juliane Köhler, Thomas Lettow, Lilith Häßle, Marie-Joelle Blazejewski (Chor),
Mariana Beleaeva (Violine), Jenny Scherling (Viola), Juri Kannheiser (Cello), Alexander Maschke (Synthesizer), Fabian Löbhard (Percussion), Heiko Jung (E-Bass)

Regie: Ulrich Rasche
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