Residenztheater Der eingebildete Kranke oder das Klistier der reinen Vernunft von Peter Licht nach Molière
Knallbunt und überdreht
Molière hatte eine Lungenkrankheit. Den daraus resultierenden Husten machte er in seinem „Geizigen“ zu einem Bühneneffekt. Das sagt viel über sein Verständnis von Komik aus. Er stellte sich der Alternativlosigkeit und nutzte die Gegebenheiten. Schwer vorstellbar, dass so einer ein Hypochonder ist. Molières Lungenkrankheit war unumkehrbar und nachdem er am 17. Februar 1673 die ersten zwei Akte der vierten Vorstellung von „Der eingebildete Kranke“ mit einigen Mühen hinter sich gebracht hatte, unterbrach ein heftiger Krampf den dritten Akt. Dennoch hielt er durch. Man brachte ihn in sein Haus in der Rue Richelieu. Dort erlitt er einen Blutsturz und verstarb. Er trug noch immer das Kostüm des „eingebildeten Kranken“.
Für viele Zeitgenossen war Molière, mit bürgerlichem Namen Jean Baptiste Poquelin, ein Paria, der Erzbischof von Paris verweigerte ihm ein christliches Begräbnis. Ludwig XIV. erwirkte immerhin einen Kompromiss und so wurde dem Verstorbenen ein „wenig Erde“ auf dem Josephsfriedhof in der Rue Montmartre zuteil. Eine Aufbahrung des Sarges in der Kapelle blieb indes untersagt. Eine aufgebrachte Rotte fanatisierter Gegner Molières wurde mit Geld zerstreut. Doch wie heißt es so treffend: Viel Feind, viel Ehr! Und die Stücke Molières traten ihren Siegeszug durch die Welt an. Einhundert und fünf Jahre nach dem Tod des Dichters wurde in der Académie Française die Büste Molières aufgestellt. Darauf ist zu lesen: „Nichts fehlte an seinem, er aber unserm Ruhme.“
Molière war ein Vollender, er beherrschte die Posse ebenso vollkommen wie die Charakterkomödie und die vom Hof geforderte Ballettkomödie. Schon seine Formvollendung machte ihn unvergänglich. Doch seine Fähigkeit als Jesuitenschüler, alles Christliche hinter das Menschliche zurück treten zu lassen, machte sein Genie aus. Er ging zu seinem barocken Jahrhundert in Opposition, schied das Jenseitige vom Irdischen und beschränkte sich auf das Gesellschaftliche. Im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern, wie beispielsweise Racine, betrachtete er die Normen des Glaubens und der Vernunft nicht als eine tragische, sondern als eine komische Konstellation. Oder mit anderen Worten, Leidenschaften, die sich durch die Vernunft nicht mehr zügeln lassen, führten bei den Tragikern in den Untergang, bei Molière mündeten sie in Gelächter. Dabei waren seine Komödien keineswegs leicht oder oberflächlich. Sie erreichten allemal die Tiefen der Tragödien, gerieten skeptisch, melancholisch und sogar äußerst bitter. Molière war ein Menschenkenner, er versuchte den Menschen nicht zu ändern, er zeichnete ihn, wie er war und immer noch ist.
Warum nun „überschrieb“ Peter Licht Molières Komödie „Der eingebildete Kranke“? Eine Begründung von ihm ist: „Wenn man im Jahr 2019 ein Theaterstück auf die Bühne bringt, das mit dem Geld aller, mit dem Geld der Gesellschaft von 2019 bezahlt wird, dann muss das auch von der Gesellschaft handeln, die 2019 stattfindet. Das ist eine absolute Notwendigkeit. Molière hin oder her. Mein Auftrag ist es, ihn zu überschreiben.“ (Programmheft zur Inszenierung) Die dabei entstehende Entfernung zu Molière ist nicht gewollt, sie ist (bei Peter Licht) naturgemäß gegeben: „Das alte Wort interessiert mich nicht. Mich interessiert die Luft, die ich atme.“
Thomas Lettow, Pia Händler, Max Rothbart, Antonia Münchow, Myriam Schröder, Henning Nierstenhöfer, Cornelius Borgolte © Sandra Then |
Argan, der „eingebildete Kranke“, bildet sich nicht nur ein, er sei krank, er ist es tatsächlich. Seine Krankheit ist die Hypochondrie. Als Leidender erklärt er sich zum Mittelpunkt des Universums und beginnt die Welt neu zu ordnen. Von seiner Tochter Angélique verlangt er, sich mit dem akademisch verstaubten Trottel Thomas Diafoirus zu verehelichen, da dieser gerade seine Approbation erlangt hat und es nicht schaden kann, einen Arzt im Haus zu haben. Damit drohte er das Glück seiner Tochter, die den jungen Cléante liebt, gegen die stets verfügbare Klistierspritze einzutauschen. Die allgegenwärtige Todesfurcht und der egomanische Umgang damit gipfeln bei Molière in verkappter Dämonie, womit ihm eine exzellente Charakterstudie gelang.
Doch es gibt noch die Typen, die ihre eigene Komödie entfalten. Allen voran Béline, seine zweite Ehefrau, die ihre Stieftochter Angélique hasst und die Argans Krankheitswahn schürt in der Hoffnung, zuletzt Alleinerbin zu sein. Toinette, das Dienstmädchen hält mit bodenständiger Vernunft dagegen. Inder Verkleidung eines Arztes verschreibt sie ihm eine Diät, bestehend aus seinen Lieblingsspeisen. Ihr gelingt es, Argan dazu zu überreden, sich tot zu stellen. Im Ergebnis dieser Farce offenbart sich Bélineals pietätlose Erbschleicherin und Angéliques liebendes Tochterherz rührt den Vater derart, dass er seinen Segen zur Verbindung mit Cléante gibt. Allerdings muss der natürlich Medizin studieren.
Das Stück war auch als Ballettkomödie verfasst mit einem Zigeunertanz im zweiten Akt, einer Burleske der Ärzte und Apotheker, quasi ein „Tanz um das goldene Klistier“ im dritten und der Verleihung der Doktorwürden an Argan am Schluss. Man könnte meinen, dass gerade das, worüber man lachen kann, Übertreibung sei. Weit gefehlt, wenn man dem Biografen Ludwig XIV. Glauben schenken darf. Seinem Bericht nach wurde der Sonnenkönig von seinen Ärzten geradezu gemeuchelt. Als man dem Monarchen die Zähne zog, brach man ihm den Kiefer. Er wurde regelmäßig zur Ader gelassen und mit Einläufen „purgiert“. Er wurde mit den abenteuerlichsten Mixturen abgefüllt, einschließlich Pferdemist, woraufhin er Furunkel bekam, unter Verstopfung und Schwindel litt und schließlich eine allgemeine Vergiftung erlitt. Und das alles lange nachdem der Monarch über die Ärzte in „Der eingebildete Kranke“ gelacht hatte. Der Abgang Molières im Kostüm des Titelhelden war immerhin die letzte Pointe im Leben des großen Dramatikers.
Regisseurin Claudia Bauer brachte das von Peter Licht „überschriebene“ Werk von Molière mit gewaltigem Aufwand auf die Bühne des Residenztheaters. Dafür ließ sie sich vom Bühnenbildner Andreas Auerbach einen dreistöckigen drehbaren Wohnturm auf die Bühne bringen an dessen rechter Seite sich das Podest für die Musiker befand. Die Komposition war nicht nur beeindruckend, sie war geradezu perfekt und der visuelle Eindruck mit riesigem Videoscreen überwältigend. Ebenso die kunstvollen Kostüme von Vanessa Rust, die allerdings wenig von der eigentlichen Physis der Darsteller übrig ließen. Die waren verwandelt in groteske Kreaturen, knallbunt und überdreht, wie auch ihr Spiel.
Florian von Manteuffel gab den Argan, der, in die heutige Welt transponiert, einen Superstar darstellte, der seinem letzten gigantischen, die Karriere krönenden Auftritt entgegensah. In einem ausschweifigen Monolog an das (überraschend für ihn) anwesende Publikum offenbarte er sein Unwohlsein. Im Grunde tat er das ganze Stück nichts anderes, als über sein Unwohlsein und sein nahes Ende zu lamentieren. Damit hielt er auch seine ganze Entourage in Schach, die sich um einen Superstar naturgemäß versammelt. Die litt mehr oder weniger (zumindest verbal) mit. Dabei stellte sich heraus, dass sich unter ihnen seine erbschleichende Ehefrau Béline, robust wie Thors Hammer von Pia Händler gespielt, aber auch seine Tochter Angélique, dargestellt von Antonia Münchow, befanden. Also, was die Verhältnismäßigkeit anbelangt, eher die Kelly-Family als Bruce Springsteen. Tatsächlich ließ es das schrille Spiel kaum zu, dass Charaktere oder selbst nur Typen eindeutig festgemacht werden konnten.
Nicht selten gab es Intermezzi, die darauf aufgebaut waren, eine partielle Komik freizusetzen. So die wenigen, aber dafür umso raumgreifenderen Auftritte von Christoph Franken als Arzt Monsieur Purgon. Dabei nahm die Skatologie, die Wissenschaft vom Kot, eine zentrale Bedeutung ein. Schon das Wort Klistier erzeugt Unbehagen, doch Peter Licht ging es darum nicht vordergründig: „Fäkalhumor kann mich mal am Arsch lecken!“ Er ließ sich von der klanglichen Nähe zum Wort Kritik inspirieren, wodurch sein Text den Untertitel „Klistier der reinen Vernunft“ in Anspielung auf Kant erhielt.
Tatsächlich taucht im Text immer wieder der Satzteil „Ich denke, ...“ auf. Dabei ging es vornehmlich darum, dass Argan, unter Freunden Argy genannt, das Denken unterlassen soll, um dann zu fühlen, was ihm eigentlich fehlt. Tatsächlich wurde Moliére im Spannungsfeld der Cartesianischen Philosophie ausgebildet, und zwar von einem direkten Gegenspieler Descartes, dem Philosophen Gassendi. Der Satz Descartes „Ich denke, also bin ich.“ ist auch heute noch für einen running gag gut. Eine zeitgemäßere Variante bezüglich unserer Medienwelt wäre: „Ich rede, also bin ich.“
Und geredet wurde viel und schnell und ununterbrochen. Wenngleich die Figuren mitunter nicht viel zu sagen hatten und sich darum häufig wiederholten, wie der Notar Monsieur Bonnefoy, gespielt von Ulrike Willenbacher, der seine wohlfeile Rolle als Rechtsverdreher im Wesentlichen mit den Sätzen: „Das kann ich bestätigen.“ Und „Wenn es unbedingt sein muss, schneid ich mir die Zeit aus den Rippen, für Madame, ist doch selbstverständlich.“ immer wieder unterwürfig bestätigte. Peter Licht ist besessen von Sprache und er lotet sie bis zum Äußersten aus. Dabei spielt er mit den Verkehrungen oder mit den Negationen der Tatsache, um sie dann durch die Negation der Negation zur erneuten Negation zu treiben, was einige Male durchaus witzig sein, allerdings auch schnell zu Überforderung führen kann. Der Zuschauer ist begieriger darauf, die Menschen und die Geschichte zu erfahren, als die Möglichkeiten der Sprachartistik.
Und genau darin liegt ein entscheidendes Manko der Inszenierung. Für zwei Stunden und fünfzehn Minuten reichte die Essenz des Textes nicht und immer wieder kamen Längen auf, die mit Wiederholungen von Text oder Situationen nicht mehr tragfähig waren. Hinzu kam, dass die Musik von Peter Licht, interpretiert von Cornelius Borgolte und Henning Nierstenhöfer, nicht selten an den Sound in Fahrstühlen oder Telefonwarteschleifen erinnerte. Sie war durchaus reizvoll und ihre Interpreten absolut sehenswert, doch erweckte sie häufig den Eindruck, Wartezeit überbrücken zu wollen.
Die Inszenierung hatte alles, um ein sensationelles Ereignis zu werden, darstellerische Verve, visuelle Effekte, bühnenbildnerische Finesse, szenische Enthemmtheit und Witz. Was fehlte war die Struktur des Stückes, wie man es von der Vorlage kennt, und das Maß. Hier wäre weniger mehr gewesen. So war es gelegentlich langatmig, ermüdend und anstrengend, also eigentlich das Gegenteil von Komödie.
Wolf Banitzki
Der eingebildete Kranke oder das Klistier der reinen Vernunft
von Peter Licht nach Molière
Mit: Florian von Manteuffel, Pia Händler, Antonia Münchow, Thomas Lettow, Myriam Schröder, Max Rothbart, Christoph Franken, Ulrike Willenbacher Musiker: Cornelius Borgolte, Henning Nierstenhöfer Live-Kamera: Jaromir Zezula/Josef Motzet Inszenierung: Claudia Bauer |