Residenz Theater Die eine und die andere von Botho Strauß
Bestandsaufnahme
Die Uraufführung eines neuen Stücks von Botho Strauß ist ein Ereignis und schafft Erwartungen. Das geschah am Münchener Residenztheater mit "Die eine und die andere". Und wenn man sich nachher fragt, ob diese Erwartungen erfüllt wurden, ist die Antwort (die des Kritikers!) jein.
Die Uraufführung eines neuen Stücks von Botho Strauß ist ein Ereignis und schafft Erwartungen. Das geschah am Münchener Residenztheater mit "Die eine und die andere". Und wenn man sich nachher fragt, ob diese Erwartungen erfüllt wurden, ist die Antwort (die des Kritikers!) jein.
Zwei Frauen treffen sich nach einem Viertel Jahrhundert auf einem Rittergut im Oderbruch zur, wie sich herausstellt, letzten Schlacht. Insa (Cornelia Froboess) erhoffte sich nach der politischen Wende in der DDR mit einer Urlauberpension ein sozial gesichertes und erfülltes Leben. Tatsächlich aber geriet sie gemeinsam mit der Tochter Elaine (Juliane Köhler) in die Einsamkeitsfalle, kaum in der Lage, das Nötigste zu erwirtschaften. Elisabeth (Gisela Stein), gerade arbeitslos geworden, tritt auf den Plan. Sie ist lebenslang die Erzrivalin Insas und hat einen Sohn Timm (Jens Harzer), der gleichsam und ohne Wissen der Halbbruder von Elaine ist. Elisabeth hat Insa bereits zwei Mal den Mann ausgespannt, um diese dann abzulegen. Der Krieg der beiden alten Damen ist ein tiefenpsychologischer Kraftakt der letztlich doch nicht erhellend ist, sondern nur die Situation überdeutlich pessimistisch beschreibt. Immerhin hat Insa noch einen Traum. Sie glaubt, dass im großen Plan noch eine Umarmung für sie vorgesehen ist. Der Name der Umarmung ist Marc Pulcznski, ein Pensionsgast. Naiv ist, wer da nicht bald wittert, dass die Umarmung an Elisabeth gehen wird. Doch das entzweit die beiden nicht, sondern verbindet sie geradezu schicksalhaft. Und während sich Insa und Elisabeth gegenseitig ihre Unzulänglichkeiten - dank Strauß - wortgewaltig und auch -witzig in die geschundenen Seelen bohren, bahnt sich zwischen den Halbgeschwistern eine Beziehung an. Nein, zum Inzest kommt es nicht. Davor ist die Verschrobenheit Elaines. Ihr Weltbild wird beherrscht von Geistern und Dämonen. Sie liebt den Schmerz - ein Schlüsselwort im Stück - und sucht ihn. Ihr gegenüber Tim, der die menschlichsten Züge im Rollenreigen trägt. Seine naive Sicht schafft Momente der Wahrheit und führt den Betrachter kurzzeitig wieder auf den Boden unverdorbener Empfindungen zurück.
Nebenher, nicht verwunderlich, wenn man Strauß Dramenpoetik kennt, handlungsperiphere Szenen. Sie dienen dazu, ausgewählte Themen wie: Der Mensch als Ding, der Mensch und die Lust am Schmerz oder der Mensch als Raum füllendes Massenindividuum zu erläutern.
Jens Harzer, Juliane Köhler © Thomas Dashuber |
Regisseur Dieter Dorn hatte es leicht, den Text adäquat zu transportieren, standen ihm doch außergewöhnliche Darsteller zur Seite. In einem Bühnenbild ((Jürgen Rose) aus ortsbeschreibenden Prospekten, auf denen sämtliche Gebäude aus den Fugen geraten waren, entwickelte der Regisseur zum Teil kammerspielartige Szenen. Die Intimität der Handlung und der Texte blieb so gewahrt. Im wohl bemessenen Raum, deutlich abgegrenzt gegen die große offene Bühne, agierte Cornelia Froboess mit einem Anflug von erfrischendem Zynismus als noch immer kraftvolle aber unrettbare Verliererin. Gisela Stein verbarg den Charakter Elisabeths hinter der Fassade eines sehr brüchig gewordenen kapriziösen Intellektualismus. Erst nachdem ihre letzte Schlacht geschlagen war, enthüllte sie barbusig und dreist ihren permanenten Egoismus. Juliane Köhler spielte überzeugend und sehr variabel eine von Dämonen beherrschte junge Frau. Rolf Schröder schreibt in seinem Essay im Programmheft, dass der geübte Botho-Strauß-Leser in der Figur der Elaine eine Kunstfigur erblicken kann. Unecht! Juliane Köhler erschuf sie, lebensecht! Die auffälligste Leistung war jedoch die Gestaltung des Timm durch Jens Harzer. Naiv und orientierungslos - aber nie ohnmächtig, ließ er sich in der Suche nach Menschlichkeit nie erschüttern. Harzer machte glaubhaft, dass der Mensch auch in kalten Zeiten nicht kalt werden muss.
Und um kalte Zeiten geht es in dem Stück auch. Wenn das Figurenensemble ein Abbild der Gesellschaft vorstellt, so sieht sich der Betrachter voller Hoffnungslosigkeit einer desolaten Gesellschaft gegenüber.
Leider wirft dieses Stück und auch die Inszenierung eine Frage nicht auf. Warum ist der Zustand der Gesellschaft und der Menschen so verheert? Wenn aber keine Fragen gestellt werden, werden auch keine Antworten eingefordert. Hier bleibt das Stück den Erwartungen des Betrachters etwas schuldig. Oder sollen wir dem Dichter wirklich Glauben schenken, wenn er sagt: "Alle Visionen sind Erinnerung". Das klingt wie der Schwanengesang eines 68ers.
Am Ende bleibt das Stück eine realistische Bestandsaufnahme, womit Strauß und die Inszenierung durch Dieter Dorn immerhin eine große Leistung erbracht haben. Darüber hinaus wohnt dem Stück eine fundamentale Einsicht inne, die den heutigen (und auch nicht heutigen) deutschen Menschen definiert. Der Mensch liebt es, Schmerzen zu erfahren, ohne daran zu leiden. Diese Aussage mit dieser Deutlichkeit war längst überfällig. Und so lautet der letzte Satz im Stück sinnfällig: "Setz dich!" Er meint, lass uns weiterhin Schmerzen bereiten.
Wolf Banitzki
Die eine und die andere
von Botho Strauß
Cornelia Froboess, Gisela Stein, Juliane Köhler, Jens Harzer, Stefan Wilkening, Lukas Eichhammer / Raphael Gehrmann, Katharina Gebauer, Burchard Dabinnus, Thomas Holtzmann, Berivan Kaya Regie: Dieter Dorn |