Teamtheater Tankstelle  Ich denke an Yu von Carole Fréchette


 

 

 

Plädoyer für das Aufbegehren

 

Die Übersetzerin Madeleine steckt in einer ungeliebten Arbeit. Da kommt ihr die Meldung von der Entlassung des chinesischen Journalisten Yu Dongyue nach 17 jähriger Haft gerade recht, um ihren Gedanken nachzuhängen. Yu war im Mai 1989 gemeinsam mit zwei Freunden nach Peking gereist, um an den Protesten auf dem Tiananmen-Platz teizunehmen. Der junge Mann hatte mit roter Farbe gefüllte Eier gegen das überdimensionale Porträt Maos geschleudert und es verunstaltet. Er wurde zu zwanzig Jahren Haft verurteilt und war bei seiner Entlassung ein psychisch und physisch zerstörter Mann. Madeleine unterrichtet ein junge Chinesin in der französischen Sprache. Sie wird nach anfänglicher Ignoranz in diese Überlegungen einbezogen und schnell stellt sich heraus, dass die seit 8 Monaten in Kanada weilende Lin eine völlig andere Sicht auf den Fall hat. Geprägt vom opportunistischen Überlebenswillen breiter Schichten der chinesischen Bevölkerung, verteidigt die junge Gärtnerin Mao, auch wenn sie insgeheim auf ihn spuckt. Eine dritte Ansicht zum Thema politische Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und der Geschichte bringt Jérémie ins Spiel. Der Möbeltischler hat einen kranken Sohn, den er keinen Augenblick allein lassen kann, weil dieser dann von Ängsten überwältigt wird. So muss er ständig Kontakt halten, bei Abwesenheit über das Telefon. Der Sohn ist für Jérémie zur alles erschöpfenden Lebensaufgabe geworden.

 

Die 1979 geborene Stefanie Bauerochse gab mit „Ich denke an Yu“  aus der Feder der kanadischen Autorin Carole Fréchette ihr Regiedebüt am Teamtheater Tankstelle. Sie inszenierte einen eindringlichen, bisweilen auch quälenden Reigen von Lebensentwürfen, der sich am Ende zwar schloss, jedoch kein Rezept für Jedermann oder -frau parat hielt. Immerhin muss es schon als Verdienst gerechnet werden, wenn heutigentags ein Stück auf die Bühne gebracht wird, das nicht nur vordergründig unterhalten will, sondern den Zuschauer in seiner eigenen Weltanschauung herausfordert, sich zumindest zu sich selbst zu verhalten. Carole Fréchette indoktriniert nicht, sie verführt nicht, sie stellt lediglich in besonderer Konstellation in den Raum. So muss auch die Begründung der Jury bei der Verleihung des Prix Siminovitch an die Autorin verstanden werden: "Ihre Stücke lassen im Bekannten Unbekanntes, im Fassbaren das Unfassliche anklingen, eine Verbindung, die ein Kennzeichen großer Kunst ist."

 

Gabriele Grafs Madeleine war eine Frau, deren Leben nicht unbedingt in geordneten Bahnen verlaufen ist. Sie trug sehr schwer an sich selbst, an ihrer Sensibilität und an ihrem Rechtsbewusstsein. Madeleine war einerseits getrieben von eigener Antriebslosigkeit zum Selbsterhalt und andererseits vom Mitleiden mit den bedrängten Kreaturen dieser Welt. Sie verkörperte den Prototyp der an sich selbst scheiternden Idealistin, die es doch immerhin zu einem verzweifelten Aufschrei brachte. Melanie Miras junge Chinesin Lin verkörperte eine Suchende, die noch ganz der ideologisierten chinesischen Gesellschaft entsprach. ‚Fünftausend Jahre Geschichte kann man nicht beenden’, so ihre Antwort auf Yus Tat. Ihre Figur gab anfangs wenig Hoffnung auf Wandlung im Reich der Mitte. Sie suchte ihr Heil in der Migration in einen anderen Kulturkreis und in der Gärtnerei, das Einzige, was seit Jahrtausenden unverfänglich ist. Der letzte Kaiser Pu Yi von China arbeitete nach seiner Entlassung aus dem Umerziehungslager unter anderem als Gärtner im Pekinger Botanischen Garten. Ein chinesischen Sprichwort sagt: „Wer einen Tag lang glücklich sein will, der betrinke sich. (...) Wer ein Leben lang glücklich sein will, der werde Gärtner.“ Soviel zu diesem Berufsbild in China. Am Ende jedoch konnte Lin mit der eigenen Selbstverleugnung nicht mehr leben und zeigte Flagge, so wie es Yu 17 Jahre zuvor getan hatte. Der Lebensentwurf Jérémies ist ein eher typisch bürgerlicher. Ulrich Zentners Figur war weitestgehend entpolitisiert. Mit der Sorge um seinen Sohn hatte er eine für ihn wichtigere Aufgabe zu bewältigen. Das Wundervolle an Carole Fréchettes Stück ist jedoch, dass Jérémie zwar nicht zu der Einsicht gelangte, gegen das vermeintliche Schicksal aufzubegehren, es aber in einem Augenblick der Raserei tat.

 

Das Bühnenbild hatte Michele Lorenzini besorgt. Es war sehr üppig, zu üppig muss man leider sagen, denn  zu viele überflüssige Details lenkten ab. Wenn sich am Ende im Denken die Strukturen aufklären, erstickt die Bühne unter den einstürzendem Lattenturm, der Internet, Bibliothek, Feste und Objekt zur Schaffung von Lichtstrukturen in einem war. Dabei soll die ausgefeilte und effektvolle Lichtgestaltung von Charlotte Marr nicht unerwähnt bleiben. Dennoch war das Auge des Betrachters von der Vielzahl der Gegenstände und Elemente zu häufig abgelenkt. Weniger wäre hier mehr gewesen. Der Botschaft, nämlich ein Plädoyer für das Aufbegehren, tat es keinen Abbruch. Es gab noch nie Zeiten, in denen Aufbegehren kein Thema gewesen wäre. Man muss nur wissen, wogegen. Und dazu bedarf es des In-Sich-Hinein-Hörens. Carole Fréchette hat es eingefordert, und Stefanie Bauerochse und ihre Mitstreiter haben es vorgemacht.

 

 

Wolf Banitzki



 


Ich denke an Yu

von Carole Fréchette

Deutsch von Heinz Schwarzinger

Gabriele Graf, Melanie Mira und Ulrich Zentner

Regie: Stefanie Bauerochse