Fast Perfekt

Teamtheater Tankstelle Fast Perfekt von Nicole Moeller


 

 

Von der Vergeblichkeit, Wahrheiten zu schaffen

Gibt es eine Wahrheit, die Wahrheit, die allen und allem gerecht wird? Nein, denn die Wahrheit kann nur außerhalb von uns existieren. Sobald wir objektive Realität reflektieren, wird sie subjektiv und kann keine Wahrheit mehr sein. Doch wir können und wollen ohne Wahrheit nicht leben, einige von uns jedenfalls, und darum lassen wir nichts unversucht, in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Die Wahrheit ist uns so wichtig, weil sie uns vielleicht Erlösung bringen könnte aus Konflikten, die wir nicht bewältigen können, mit denen wir aus objektiven oder auch aus subjektiven Gründen überfordert sind.

Leider ist die Wahrheit, die vermeintliche oder auch die wirkliche, oder das, was wir dafür halten, auch zu einer Ware geworden. Das Business, das damit handelt, nennen wir Medien. Wahrheit dient heutigentags allerdings nicht unbedingt dem Wissenszuwachs, der Erweiterung von Weltanschauung, sondern vornehmlich der Unterhaltung, der Befriedigung unseres Voyeurismus, der die ursprüngliche menschliche Neugierde völlig ersetzt zu haben scheint. Dem entsprechend haben ausgewählte Themen, insbesondere Gewalttätigkeiten und andere menschliche Katastrophen Konjunktur. Selbst im öffentlich rechtlichen Fernsehen gibt es ganze (Vorabend-) Sendungen, die über Entführungen, Vergewaltigungen, Suizide, Auslöschungen ganzer Familien durch Amokläufe gescheiterter Familienväter, Überfälle oder Einbrüche „informieren“.

Mit „Fast Perfekt“ (An Almost Perfect Thing) von der kanadischen Autorin Nicole Moeller bescherte uns das Teamtheater unter der Spielleitung von Dieter Nelle eine Variation zum Thema. Die Geschichte erzählt von der achtzehnjährigen Chloe, die mit zwölf Jahren entführt wurde und nach sechs Jahren unvermittelt wieder auftaucht. Weder die Polizei, noch Psychologen können dem sensiblen Mädchen entlocken, was ihr in den sechs Jahren tatsächlich widerfuhr. Sie selbst erwählt Greg, einen mittelmäßigen Journalisten, um sich ihm anzuvertrauen, denn er hatte sechs Jahre zuvor von ihrer Entführung berichtet. Chloe kannte diese Artikel, die ihr ein Stück der verloren gegangenen Realität in ihren Kerker brachte. Der Dritte im (theatralen) Spiel um die Wahrheit war Mathew, der Entführer. Der nahm auch nach der Flucht Chloes weiterhin „mitfühlend“ an ihrem Leben teil, denn Journalist Greg versuchte in einer wöchentlichen Kolumne der Wahrheit über Chloes Martyrium soweit nahe zu kommen, dass die Identität des Entführers offenbar werden würde.

Soviel vorab: Voyeurismus wurde hier keinesfalls bedient und Wahrheit fand sich nur in der Handlung, nicht in der Reflexion derselben. Am Ende stand der Betrachter mehreren schwer fassbaren Varianten von Wahrheit gegenüber, die sämtlich unbefriedigend waren, denn unsere (zumeist klischeehaften) Vorstellungen und Erwartungen erfüllten sich nicht. Zwar gab es so etwas wie Gerechtigkeit, doch die hinterließ viel Verunsicherung und ein Wechselbad der Gefühle beim Zuschauer.

Regisseur Dieter Nelle wählte für sein Regiekonzept eine besondere Perspektive. Ausstatterin Aylin Kaip schuf ihm dafür drei leichte und durchscheinende Raum-Versatzstücke: die Wohnung von Greg, die Wohnung von Mathew und Chloes Gefängnis. Da die Texte von Nicole Moeller mosaikartige Brocken waren, die häufig den räumlichen Bezug wechselten, platzierte Dieter Nelle die Darsteller nicht in die Räume, sondern bracht die Räume durch Drehen oder Verschieben zu den Darstellern. Damit blieb die Erzählkontinuität gewährleistet.

Die sensiblen Texte, am Anfang von gegenseitiger Verweigerung geprägt, fanden erst langsam zu einem Fluss. Mit ihnen wandelten sich zunehmend auch die Haltungen der Darsteller. Elisabeth Grünebachs anfänglich unbedarft und noch kindlich wirkende Chloe entwickelt sich im Verlauf der „Wahrheitsfindung“ zu einer Frau mit Sehnsüchten und Begierden. Das „Opfer“ offenbarte bald Machtansprüche und verriet Strategien, die Schaudern machte. Bald schon wurde deutlich, dass diese Entführungsgeschichte und ihre Aufarbeitung sehr ambivalent abliefen.

Sascha Maazs Täter Mathew erfüllte so gar nicht das Bild eines Entführers. Vielmehr entpuppte er sich als ein simpel gestrickter, psychisch instabiler, stotternder Mann, der unbeholfen Liebe einforderte, die er bislang, wenn überhaupt, nur von seiner Mutter bekommen hatte. Nach dem Tod der vermutlich sehr dominanten Frau war Mathew mit seinen Sehnsüchten allein geblieben. Er hatte keinen anderen Weg als die Entführung gefunden, einem Menschen nahe zu sein und ihn an sich zu binden. Sascha Maaz spielte dieses armselige Geschöpf als einen innerlich zerrissenen Mann, der neben seiner explosiv-aggressiven Haltung gegenüber der Welt durchaus auch zärtliche Züge aufwies. Die gelungene Darstellung führte zu einer Verständlichkeit der Figur, verführte allerdings nicht zu einem Mitleid, das sein Tun entschuldigte. Er blieb in jedem Fall der Täter.

Täter war allerdings auch der Journalist Greg. Stefan Maaß stattete ihn anfänglich mit einer glatten Fassade aus, die bald zu bröckeln begann. Dahinter verbarg sich ein erfolgshungriger Mann,  der mit dieser Geschichte unbedingt seinen Durchbruch erreichen wollte. In seiner Gier nach journalistischem Ruhm lotete er immer wieder die Grenzen der Belastbarkeit Chloes aus. Die, selbst nur auf der Suche nach ein wenig Nähe, Liebe und Geborgenheit, bediente sich indes durchaus erfolgreich der Strategien ihres Peinigers Mathew.

Es war ein Spiel um Macht, um die unbedingte Durchsetzung der ureigenen Wahrheit. Doch es gab mindesten drei Wahrheiten, die keinen Konsens zuließen. Es war im Grunde eine tragische Geschichte für alle Beteiligten. Das Ringen um die perfekte Erklärung aller Vorgänge scheiterte, wie jeder Versuch, Perfektion zu erreichen, scheitern muss. G. L. Borges brachte es sehr treffend auf den Punkt: „Perfektion ist keine Tugend, sie ist nur die Abwesenheit von Fehlern.“ Es ist nicht nur die menschlichste aller Eigenschaften, Fehler zu machen, es ist auch das Privileg des Menschen. Und daran wird die Wahrheit immer unweigerlich scheitern. Es bleibt stets nur „Fast perfekt“, - im Teamtheater großartig als spannender Thriller inszeniert und gespielt, den man unbedingt gesehen haben sollte.             

 

Wolf Banitzki

 


Fast Perfekt

(An Almost Perfect Thing)
von Nicole Moeller

Stefan Maaß, Elisabeth Grünebach, Sascha Maaz

Regie: Dieter Nelle

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