Juri

Teamtheater Tankstelle Juri von Fabrice Melquiot


 

 

Der Wahnsinn zieht seine Kreise

Anja begrüßt ihren Patrick-Schatz mit einem Geschenk. Der genießt es, von Anja-Schatz verwöhnt zu werden und freut sich über das Verwöhnprogramm mit Sofa, Martini und einem neuen Hemd in seiner Lieblingsfarbe. Das Paar hat es geschafft; sie sind beruflich erfolgreich und gesund. Nun ja, ganz geschafft haben sie es wohl doch nicht, denn bislang hat sich bei ihnen noch nicht der erhoffte und ersehnte Kindersegen eingestellt. Patricks Spermatozoen sind nicht die agilsten und auch alle medizinische Nachhilfe hat noch zu keinem brauchbaren Ergebnis geführt. Anja ist es leid, zu warten und handelt. Und so präsentiert sie ihrem Ehemann an diesem Abend einen frisch adoptierten Sohn namens Juri.

Gefunden hat sie ihn bei den Tiefkühltruhen bei Rewe. Der Knabe ist, wie sich später herausstellt, 19 Jahre alt, scheint geistig völlig zurückgeblieben zu sein und spricht kein Wort, vermutlich, weil er nichts versteht. Warum Juri? Weil er russisch aussieht! Und warum Russe? Weil er Juri heißt! Patricks Entsetzen über die augenscheinliche Entführung und das völlig inakzeptable Benehmen des vermeintlichen Idioten, er pisst in die Ecken des Wohnzimmers, beginnt zu schwinden, als Juri an seine Brust gekuschelt einschläft. In Patrick erwachen Vatergefühle, in Anja Neid. Dennoch wird Juri, der, warum auch immer, halber Afrikaner und halber Chinese ist, das Paar glücklich machen. Warum und wie, ist eine Geschichte voller anarchischer Wendungen, Aberwitz und Wahnsinn. Logik? Fehlanzeige, dafür umso mehr Komik, auch Klamotte - und warum auch nicht.

Autor Fabrice Melquiot ist der neue Stern am Himmel der französischen Dramatik. (Zitat: Politis) Der 1972 geborene Schauspieler begann mit Stücken für „junges“ Publikum. Inzwischen schreibt er ausschließlich, z.B. als Hausautor für „La Comédie de Reims“. Er hat keinen festen Wohnsitz mehr und wechselt beinahe monatlich seinen Aufenthaltsort. Das erinnert durchaus an die Figur des Juri, der in das Dasein eines Paares der „Yuppiegesellschaft“ tritt oder auch verschleppt wird, deren Leben er grundlegend verändert und wieder verschwindet. Das Stück handelt von Migration und dem Verhältnis der „Eingeborenen“ dazu, von Familie und den Bildern davon und menschlichen und unmenschlichen Verhaltensweisen. Das Stück ist weder politisch korrekt, noch hat es eine didaktische Botschaft und es bedient beinahe jedes denkbare und auch undenkbare Klischee. Dennoch, oder vielleicht gerade darum, entspringt es der Mitte unserer Gesellschaft, in der der Wahnsinn seine Kreise zieht.

Andreas Wiedermann hat dieses Stück „nackter Wahnsinn“ auch als solchen inszeniert.
Theresa Hanichs Anja war in jeder Hinsicht eine „moderne“ Frau. Sie gab viel auf moderne Haushaltsführung und beschäftigte sogar einen Saugroboter. Sie sparte Spießigkeit nicht aus, denn schließlich stammt sie aus der Generation: „Wenn ich mal groß bin, möchte ich Spießer werden.“ Bei alldem war sie sehr berechnend und pragmatisch. Den Vorwurf, Juri gekidnappt zu haben, wischte sie mit dem Argument vom Tisch, er habe so traurig neben den Tiefkühltruhen gestanden und die Eltern hätten es doch gar nicht besser verdient, als dass man ihnen ihr Kind nimmt. Sie vereinnahmte, was sie begehrte und moralische Skrupel waren für sie vernachlässigbar. Ganz anders Patrick, vom hühnenhaften Clemens Nicol gespielt. Er begriff den Wahnsinn auch als solchen, fand aber schließlich Gefallen daran und ließ sich alsbald willig auf das Spiel ein. Dennoch brachten ihn die rasant wechselnden Situationen häufig an den Rand der Atemlosigkeit. Juri wurde von dem sehr jugendlich und zerbrechlich wirkenden Friedrich Spieser gespielt. Da sein Text aus kaum mehr als zwei Sätzen bestand, war Gestik und Mimik gefragt. Dabei ging es nie schamhaft zu, was durchaus einen gewaltigen Reiz der überaus unterhaltsamen Inszenierung ausmachte.

Im richtigen, der Situation (halbwegs) glaubhaft angemessenen Kontext gibt es eigentlich keinen Tabubruch. Diese Situationen wollen allerdings herbei geführt werden und das gelang Andreas Wiedermann und seinen Mitstreitern allemal. Ein wirklich kurzweiliger Abend, der aus vielerlei Gründen im Gedächtnis bleiben wird. Einer war unbestritten die dramatische Vorlage von Fabrice Melquiot, die auch den von der Werbung versprochene Tiefgang lieferte. In jedem Fall machte die Inszenierung neugierig auf kommende Arbeiten des Autors.

 

Wolf Banitzki

 


DEA Juri

von Fabrice Melquiot

Theresa Hanich, Clemens Nicol, Friedrich Spieser

Regie: Andreas Wiedermann