Jugend ohne Gott
Teamtheater Tankstelle Jugend ohne Gott nach Ödön von Horváth
Recht ist, was der eigenen Sippschaft frommt
Ödön von Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ erschien 1937 im Allert de Lange Verlag in Amsterdam. Dieser Verlag war zu der Zeit schon einer der wichtigsten Immigrantenverlage, denn die Nazis hatten längst begonnen, den eisernen Besen zu schwingen, um die geistige Volksgesundheit zu befördern. Bereits im selben Jahr erntete Horváth für diese Prosaarbeit großes Lob von honorigen Zeitgenossen wie Thomas Mann, Alfred Döblin und auch Hermann Hesse, der an Alfred Kubin schrieb: „Sie ist großartig und schneidet quer durch den moralischen Weltzustand von heute.“ Horváth hat nicht einfach nur ein literarisches Werk verfassen wollen, es sollte ein didaktisches sein, gegen die Zustände seiner Zeit. „Es ist ein Buch gegen die (geistigen) Analphabeten, gegen die, die wohl lesen und schreiben können, aber nicht wissen, was sie schreiben und nicht verstehen, was sie lesen. Und ich hab ein Büch für die Jugend geschrieben, die heute bereits wieder ganz anders aussieht, als die fetten Philister, die sich Jugend dünken. Aus den Schlacken und Dreck verkommener Generationen steigt eine neue Jugend empor. Der sei mein Buch geweiht! Sie möge lernen aus unseren Fehlern und Zweifeln!“ (Aus ersten Entwürfen zu einem Roman mit dem Titel „Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit“, Ende 1935 datiert.)
„Jugend ohne Gott“ erzählt aus der Sicht eines Lehrers dessen und die Geschichte seiner Schüler. Er versteht sie nicht mehr, steht ihren Auffassungen fassungs- und ratlos gegenüber. Ein Eklat wird ausgelöst durch einen Aufsatz zum Thema: „Warum brauchen wir Kolonien?“ Der Schüler Otto N. schreibt: „Alle Neger sind hinterlistig, feig und dumm.“ Sind das tatsächlich die Ansichten eines Schülers? Nein, denn eben diesen Satz hat er aus dem Rundfunk. Also lässt der Lehrer diesen Satz stehen. Er will seinen Pensionsanspruch nicht gefährden mit seinem Rotstift gegen die öffentliche Meinung. Immerhin ringt er sich zu der Bemerkung durch: „Auch Neger sind doch Menschen.“ Das ruft den Vater des N. auf den Plan, ein „reicher Plebejer“, der seiner Entrüstung Luft macht und dem Lehrer androht: „Bei Philippi sehen wir uns wieder!“ Philippi war der Direktor des Gymnasiums, es war aber auch eine Stadt in Thrakien, vor dessen Toren Octavian und Antonius die Republikaner unter Brutus und Cassius im Jahr 42 v.Ch. vernichtend schlugen. Die Hatz gegen den Lehrer beginnt. Der verabscheut seine Widersacher zutiefst: „Alles Denken ist ihnen verhasst. Sie pfeifen auf die Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen – doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten. Wie gern würden sie krepieren auf einem Feld.“ Die Schüler haben ebenfalls ihr Urteil gefällt: Der Lehrer ist unreif; er ist zu wenig pragmatisch.
Um den (nationalen) Gemeinschaftsgeist und die Moral zu ertüchtigen, geht es in ein paramilitärisches „Zeltlager“. Horváth hat dieses Kapitel in großer Weitsicht mit der Überschrift „Der totale Krieg“ versehen. Ein Mädchen tritt ins Rampenlicht, eine geflohene Kleinkriminelle, die eine Kinderbande anführt. Dann kommt es unter den Schülern zu einem Mord. Die Gesellschaft versagt in dieser Stunde der Bewährung völlig. Der Lehrer indes findet dabei zu Gott: “Denn Gott ist die Wahrheit.“
Andreas Wiedermann geht mit seiner Horváth-Inszenierung, die unter dem Motto „Glaube, Liebe, Hoffnung“ steht, nach „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger in die zweite Runde seiner Europatrilogie. Im schwarzen Bühnenraum des Teamtheaters Tankstelle, einzig mit einigen Musikinstrumenten und ein paar Stühlen versehen, hingen ungeordnet die Buchstaben der Wörter, die zugleich auch der Titel eines Theaterstücks von Horváth sind. Es war allerdings kein simpler Bezug auf das Stück, sondern Bestandteil der Dramaturgie. Wann immer einer der Begriffe mit der Handlung übereinfiel, wurde er über Beleuchtung hervorgehoben. (Licht Wolfgang Herrein)
Es war faszinierend anzuschauen, wie einfach und schlüssig sich die Geschichte des Romans auf die heutige Zeit transponieren ließ. Aus „Warum brauchen wir Kolonien?“ wurde „Warum wir Zuwanderung brauchen!“ Auch bei Horváths Roman drehte sich letztlich alles um neoliberalen Pragmatismus. Aus der Kleinkriminellen Eva wurde der Flüchtling Eva. Sie schlüpfte zudem kurzzeitig in die Rolle der arbeitslosen Näherin Agnes Pollinger aus Horváths Erstlingsroman „36 Stunden“, der 1928 in München spielt. Auf dem Arbeitsamt lernt Agnes den sympathischen Österreicher Reithofer kennen und verabredet sich mit ihm. Geblendet von der Erscheinung des Eishockeystars und Womanizers Harry Priegler und seinem Sportwagen, lässt sich das ahnungslose Mädchen nach Starnberg entführen. Priegler investiert ein Schnitzel mit Gurkensalat und kommt zur Sache. Allerdings enttäuscht ihn die sexuelle Bereitschaft der jungen Frau und er lässt sie kurzerhand auf der Straße stehen. Als sie nach sieben Stunden endlich in der Schellingstraße eintrifft, erwartet sie der versetzte Reithofer mit der Botschaft, einen Job für sie aufgetan zu haben. Agnes, die an Selbstlosigkeit nicht mehr glauben kann, überschüttet ihn mit den unflätigsten Beschimpfungen. Doch Reithofer lässt sich nicht vergraulen. „Wissens, Fräulein Pollinger, es gibt nämlich etwas auch ohne das Verliebtsein, aber man hat es noch nicht ganz heraus, was das eigentlich ist. Ich hab halt von einer Stelle gehört, und bin jetzt da. Es ist nur gut, wenn man weiß, wo ein Mensch wohnt.“ Soviel zum Thema Hoffnung.
Autor Wiedermann machte aus den Textvorlagen, die sich ohne Probleme organisch miteinander verweben ließen, ein „szenisches Vexierspiel“. Der Regisseur Wiedermann indes setzte in seinen Inszenierungen auf Wortkulissen statt auf ausladende Bühnenbilder, auf schauspielerischen Gestus und schlüssiges Ensembletheater. Deutlich rhythmisiert, nicht zuletzt auch durch die Musik von Martin Schönberger, sangen und spielten sich die zehn Darsteller durch eine Vielzahl unterschiedlichster Rollen und Spielsituationen. Leider gelang ihnen das nicht mit derselben ästhetischen Geschlossenheit und demselben spielerischen Fluss wie in der wunderbaren Inszenierung von „In Stahlgewittern“. So blieb die zwingende Magie in einigen Szenen aus. Die spielwütigen jungen Akteure agierten in der Premiere bisweilen zu druckvoll und schossen in ihrem Begehren, das Publikum mit physischer und stimmlicher Expression mitzureißen, hinaus.
Das war umso bedauerlicher, weil die von Andreas Wiedermann erarbeitete Fassung hervorragend funktionierte und nicht nur die Texte von Horváth, die weniger an das politische als vielmehr an das moralische Gewissen appellieren, konsequent auslotete, sondern die aktuellen Problematiken in eine adäquate Dimension übertrug. Er verhandelte nicht nur den Generationenkonflikt, den Neoliberalismus, die Technikgläubigkeit, die Verblödung der Jugend durch faktisches Wissen anstelle von weltanschaulichem Denken und Verstehen; er verhandelte ebenso das Wesen von Solidarität und Verblendung in Bezug auf die heutige Krise, ausgelöst durch Menschen, die häufig einfach nur ihr Leben retten wollen und an unsere Türen klopfen. „Recht ist, was der eigenen Sippschaft frommt“, gilt es zu überwinden und diese Inszenierung vermochte einige Aufklärung dazu zu leisten.
Es war ein großes Vorhaben, das leider nicht die größtmögliche Wirkung erzielte. Aber es bleibt die berechtigte Hoffnung, dass die Darsteller nach dem Premierendruck im Spiel noch ein wenig justieren und das Maß finden.
Wolf Banitzki
Jugend ohne Gott
nach Ödön von Horváth
Mit Simon Brüker, Friedrich Custodio, Urs Klebe, Matthias Lettner, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Gudrun Skupin, David Thun, Matthias Wagner, Isabelle Zahradniyk Regie: Andreas Wiedermann |