Teamtheater Tankstelle Die Möwe von Anton Pawlowitsch Tschechow


 

Von der Verderbnis der Langeweile

„Die Möwe“ ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein Drama dasselbe Schicksal erfährt, wie ein im Stück „Die Möwe“ zur Uraufführung gelangtes Drama des Protagonisten Konstantin Gavrilovič Treplev, genannt Kostja. Die Darbietung des ambitionierten, in neue Formen gegossenen Stücks findet ein abruptes Ende, als Kostja erkennen muss, dass die Zuschauer nicht nur nichts verstehen, sondern sich über das Werk lustig machen. Kostja wollte mit seinem Werk nicht nur neue Wege beschreiten, sondern er wollte gleichsam seine Mutter, die in Moskau hochgelobte Schauspielerin Irina Arkadina, und deren Liebhaber, den berühmten Schriftsteller Boris Alekseevič Trigorin, für seine neue Kunst gewinnen. Doch er musste erkennen, dass die beiden grandiosen Künstler doch nur scheuklappentragende Gäule auf dem Acker des Kommerzes sind. So wie Kostja scheiterte, scheiterte auch „Die Möwe“ bei der Uraufführung am 17. Oktober 1896 im Alexandrinski-Theater in Petersburg. Der Misserfolg war fulminant und Tschechow schrieb am 20. November in einem Brief: „Ja, meine Möwe hatte in Petersburg, bei der ersten Vorstellung, einen Riesenmisserfolg. Das Theater atmete Bosheit, die Luft war explosiv vor Hass, und ich flog – den Gesetzen der Physik gehorchend – aus Petersburg davon wie eine Bombe.“

„Die Möwe“ stieg am Moskauer Künstlertheater im Jahr 1898 wie ein Phönix aus der Asche so grandios wieder auf, dass seither eine weiße Möwe den Vorhang des Theaters ziert. Das Stück ist eines der meistgespielten Komödien Tschechows. Wie in vielen Dramen Tschechows dreht sich auch in „Die Möwe“ alles um eine dekadente, von Langeweile gelähmte Gesellschaft. Mittelpunkt der Geschichte ist Kostja, der die Nachbarstochter Nina Michailovna Zarečnaya liebt. Sie war die Hauptdarstellerin seines symbolistischen Dramas. Nina hat, Kostjas Mutter vor Augen, starke Ambitionen, den Beruf der Schauspielerin zu ergreifen. Sie himmelt zudem den Novellisten Trigorin an, der sich seinerseits in das junge, springlebendige Mädchen verliebt. Als Kostja eine Möwe geschossen hat, erklärt er in seiner Verzweiflung über die unerwiderte Liebe zu Nina, dass auch er sich irgendwann auf dieselbe Weise das Leben nehmen wird. Trigorin, der in der Hand Ninas die tote Möwe sieht, entwirft spontan ein literarisches Sujet: „Am Ufer des Sees wohnt ein junges Mädchen seit ihrer Kindheit; (…) es liebt den See gleich einer Möwe und ist glücklich und frei wie die Möwe. Zufällig aber kam ein Mensch, der sah sie und brachte sie vor lauter Müßiggang ins Verderben, genau wie diese Möwe.“ Trigorin wird der Verderber sein und Nina die Möwe. Ihr Schicksal und indirekt auch das von Kostja ist mit diesem Entwurf umrissen.

Andreas Wiedermann brachte die Tschechowsche Komödie auch als solche auf die Bühne. Darsteller wie Clemens Nicol, der einen hinfälligen, weinerlich jammernden Sorin, Onkel Kostjas, gab, trieb es mit dieser Figur bis zum Äußersten. Dabei kann nicht behauptet werden, er hätte die Figur denunziert. Tschechows Text macht ihn zu einem lächerlichen Menschen. Wenn er seine eigene Untauglichkeit bejammert, wendet der Arzt Dorn ein, er hätte es doch immerhin zum „Wirklichen Staatsrat“ gebracht. Darauf Sorin: „Das hab ich nicht gewollt. Das hat sich so ergeben.“ Auch der Arzt Dorn ist eine lächerliche Person, ein Womenizer, Müßiggänger und weitestgehend frei von Empathie. Robert Gregor Kühn spielte ihn elegant gespreizt mit hörbaren Vorzügen, wenn Stimme gefragt war. Immerhin, und das spricht für Dorn, war er der einzige Zuschauer, der Kostjas Stück und Inszenierung etwas abgewinnen konnte. Sorin sagt über Dorn: „Sie sind satt und gleichgültig und neigen deshalb zum Philosophieren… Und basta.“ Das sich häufig wiederholende „Und basta“ wurde ersetzt durch „Ende Gelände“. Das war nur ein Indiz dafür, wie leicht sich diese Geschichte ins Heute adaptieren lässt. Es war von Führerscheinverlust die Rede und Mascha, Marja Ilyinišna Šamrayeva, Tochter der Hausbediensteten Paulina Šamrayeva, wurde von Christina Matschoss als weltflüchtendes, Tabak schnupfendes und trinkendes Gothicgirl gespielt. Sie liebte Kostja, wurde von ihm verschmäht und heiratete den langweiligen Lehrer Semyon Semyonovič Medvedenko, der in Wiedermanns Inszenierung nur als Handystimme präsent war.

So wirkungsvoll, wie die Darsteller der Nebenrollen agierten, behaupteten sich auch die Darsteller der Hauptrollen. Allen voran Theresa Hanich als Starschauspielerin Irina Nikolayevna Arkadina. Sie war eloquent, wenn es darum ging, ihre Person zu spiegeln, arrogant und ignorant in ihrer Langeweile und bissig wie eine Hyäne, wenn es um die Verteidigung ihrer Pfründe ging. Zu ihrem Besitz gehörte auch und vor allem der Autor Boris Alekseevič Trigorin, ein träumerisch veranlagter Weichling, der sein eigenes begrenztes Talent durchaus realistisch einzuschätzen wusste, der sich aber ungeachtet dessen selbst willig zum Spielball der (Götzen-) Verehrung machte. Die Vorzüge derselben nahm er immerhin mit. Stefan Voglhuber gestaltete die Rolle mit viel Feingefühl, agierte sehr verhalten und in seinem Minimalismus absolut überzeugend. Anna Katharina Flecks Darstellung der Nina reichte von mädchenhaft-überschwänglich bis gebrochen-depressiv und selbst zuletzt noch abhängig von ihrem Verderber. So gelang es Kostja mit seinem Werben nicht mehr, das Herz seiner einzigen großen Liebe für sich zu erweichen. Friedrich Custodio hatte mit der Rolle des Kostjas die undankbarste. Er musste sich inmitten eines Panoptikums lächerlicher oder illustrer, viel Heiterkeit im Publikum erzeugender Gestalten unentwegt qualvoll die Brust aufreißen und sichtlich leiden. Es hätte ohne ihn eine so schöne, unterhaltsam Komödie sein können, doch den Spaß verdarb er. Die Opferung seiner Person macht diese so leichtfüßige Gesellschaftskomödie zu einem existenzialistischen Erdrutsch.

Spielleiter Wiedermann schmuggelte einen sehr bedeutsamen Satz in Sorins Mund, der fast unterging im Spiel: „Modernes Theater muss enttäuschen.“ Diesen Satz ließ Andreas Wiedermann 2008 schon einmal aus dem Mund von Peter Squenz, Impresario der dilettierenden Handwerkerschauspieltruppe aus William Shakespeares “Sommernachtstraum“ vernehmen. Nimmt man einmal das Imperativische aus dem Satz heraus und bleibt beim Konjunktiv, „Modernes Theater kann enttäuschen.“, bleibt gerechtfertigte Zustimmung nicht aus. Die leidenschaftliche Truppe um Wiedermann, ihre Spiellust ist unübersehbar, hat durchaus modernes Theater gemacht und nicht enttäuscht. Es äußerte sich in einer zeitgemäßen und ansprechenden Lesart, denn Tschechows Inhalte sind seit mehr als einem Jahrhundert modern. Es kommt bei Modernität vielmehr auf die schlüssige Vermittlung dieser Ideen an und die sind von darstellerischer Haltung, vom glaubhaften Gestus abhängig und nicht von technischen Effekten und ästhetischen FlicFlacs, gegen die grundsätzlich nichts einzuwenden ist. Viele Modernismen allerdings enttäuschen, weil sie nicht selten den Mangel an profunden Ideen kaschieren. Der Inszenierung im Teamtheater kann sowohl Modernität in der Lesart, in (der Kargheit) der Ausstattung, aber auch in der intellektuellen Qualität des Konzeptes und der Umsetzung bescheinigt werden. Solide und sehenswert.

Wolf Banitzki

 


Die Möwe

von Anton Pawlowitsch Tschechow

Friedrich Custodio, Anna Katharina Fleck, Theresa Hanich, Robert Kühn, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Ramona Schmid und Stefan Voglhuber

Regie: Andreas Wiedermann