Teamtheater Tankstelle Clockwork Orange nach dem Roman von Anthony Burgess
Ein großer Bogen
Nach „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger und „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horváth vollendete Andreas Wiedermann seine „Europa-Trilogie“ mit einer Bühnenfassung von „Clockwork Orange“ nach Anthony Burgess gleichnamigem Roman. Man schreibt das 2036. Europa ist durch Staat und seine Organe befriedet, vollständig unter Kontrolle und was Datenschützer ein halbes Jahrhundert zuvor in blanke Panik versetzt hätte, ist anerkannte und praktizierte Realität. Doch auch in dieser „schönen neuen Welt“ gibt es einen Rebellen, der unangepasst bleibt. Sein Name ist Alex. Er ist Kind einer biederen Mittelstandsfamilie. Sein IQ ist über 130, was ihn in seiner Clique für eine „Leadership“ qualifiziert und ihn gleichsam seiner gesellschaftlichen Überwachung überlegen macht. Mit seinen Droogs (Russisch Drug – Freund) zieht er nächtens durch die Stadt und terrorisiert sie. Drogen, Mädchen, schnelle Autos, Alex bedient sich nach Gutdünken. Gewalt ist ein leidenschaftliches Statement der jungen Männer. Sie leben sie untereinander, gegeneinander, aber auch gegen die Gesellschaft aus. Auf ihren Streifzügen brechen sie in ein Landhaus ein, schlagen den Eigentümer zum Krüppel und vergewaltigen seine Frau.
Letztlich sind es seine Droogs, die Verrat begehen, denn die sind hinter dem großen Geld her, das für Alex allerdings uninteressant ist. Ihm geht es vielmehr um das Ausleben seiner animalischen und narzisstischen Bedürfnisse. Als Alex eine reiche Lady in ihrem Haus überfällt und sie tötet, schlagen ihn seine eigenen Freunde nieder und überlassen ihn dem Zugriff der Polizei. 14 Jahre Zuchthaus lautet das Urteil wegen Mordes. Doch Alex ist anpassungsfähig, legt eine makellose opportunistische Führung an den Tag und gewinnt so das Vertrauen der Gefängnisleitung. Schließlich kommt er, der gerade einen Häftling getötet hat, in ein so genanntes „Transparenz-Programm“, das mit medizinischen Methoden eine Resozialisierung bewerkstelligen soll. Alex wird einer martialischen Gehirnwäsche unterzogen. Im Ergebnis der Behandlung wehrt sich sein Körper gegen jeden Regelverstoß mit heftiger Übelkeit. Er ist außer Stande, Gewalt auszuüben oder sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen. In diesem Zustand in die Realität entlassen, widerfährt ihm gnadenlose Gewalt und Manipulation. Alex ist wehrlos. Und doch gelingt es ihm, dem Teufelskreis zu entkommen und auch noch seinen Schnitt dabei zu machen.
Seine enorme Popularität verdankte der Roman nicht zuletzt auch der (Kult-)Verfilmung durch Stanley Kubrick, die eine anhaltende, überaus kontroverse Diskussion entfachte. Von „faschistoid“ bis „gewaltverherrlichend“ erwarb Kubricks Arbeit alle nur denkbaren Attribute. Die katholische Kirche in den USA setzte den Film sogar auf den Index. In England nahm Kubrick selbst den Film unter dem Druck der Behörden aus dem Verleih. Dabei waren sowohl der Roman, als auch der Film von einer sehr gewalttätigen Realität in England der 60er Jahre inspiriert. Verglichen mit heutigen Gewaltdarstellungen in Blockbustern mutet Kubricks Werk beinahe operettenhaft an, zumal der Regisseur sich durch Elemente des Ausdruckstanzes in seinem künstlerischen Ausdruck hatte inspirieren lassen.
Im Unterschied zu Kubrick hielt sich Andreas Wiedermann weitestgehend an das Buch von Anthony Burgess. Er übernahm die Sprache, die als „Nadsat“ bezeichnet wird, einem Jargon aus russischen Wortstämmen und Cockney-Slang. Sämtliche Darsteller waren in schwarze Morphsuits, eng anliegende Ganzkörperanzüge, gekleidet und trugen schwarze Kopfmasken. So blieben die Charaktere unkonkret und austauschbar. Im Mittelpunkt stand jedoch stets Alex, der, ohne Maske spielend, von jedem der Darsteller abwechselnd gespielt wurde. Ein zusätzlicher weißer Kittel machte die Darsteller zu Ärzten oder Krankenschwestern. Wenn am Ende der Innenmister auftrat, trug er ein graues Hemd. Seine Stimme war mit Heliumgas in die Höhe getrieben und lächerlich gemacht worden.
Widermanns Inszenierung begann in einem Datingroom, in dem die anwesenden Personen durch Apps gesteuert wurden. Die Apps erfassten jeden Eintretenden und lieferten sofort Profile und, wenn eine hohe Übereinstimmung herrschte, auch entsprechende Empfehlungen. Die Personen folgten willig und vertrauend diesen Empfehlungen. Andere Apps steuerten das Verhalten von Personen in der Gruppe, um diese zu harmonisieren. Diese erschreckende Vision war wahrlich nicht an den Haaren herbei gezerrt. Auf der Bühne allerdings entstand ein groteskes und erschreckendes Bild. Dann folgte die Geschichte von Alex. Die jungen Darsteller spielten dynamisch und mit Verve, wie man es aus den anderen Teilen der Trilogie bereits kannte. Dennoch ging das Konzept von Andreas Wiedermann nicht im selben Maße auf. Insbesondere die Gewaltorgien, die mit Schaumgummi ausgefochten wurden, banalisierten die Geschichte und zogen sie in die Länge. Hier wäre es wohl besser gewesen, Kubrick zu folgen und die Gewalt künstlerisch zu brechen. Tanz wäre eine Möglichkeit gewesen, zumal die Musikauswahl von Barockoper bis zu Ludwig van Beethoven (Sounddesign : Clemens Nicol) vieles ermöglicht hätte. Für die jungen und spielfreudigen Darsteller wäre es gewiss keine zu hohe Hürde gewesen.
Obgleich dem dritten Teil der „Europa-Trilogie“ nicht dieselbe Wirkung und Überzeugungskraft der vorangegangenen zwei Teile innewohnte, ist das Gesamtprojekt durchaus bemerkens- und lobenswert. Es gelang Wiedermann und seinen Mitstreitern, ein Jahrhundert voller Gewalt und menschlicher Katastrophen Revue passieren zu lassen. Er schlug damit einen ganz großen Bogen. Der letzte Teil macht indes schmerzlich bewusst, dass am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder Gewalt in unterschiedlichsten Formen weltweit dominiert. Das ist eine entsetzliche Wahrheit, die eigentlich Konsequenzen haben sollte. Und wenn der Zuschauer nur die simple Botschaft aus den Inszenierungen mitnimmt, dass es endlich an der Zeit wäre, aus der Geschichte zu lernen, wäre viel gewonnen. Was würden wir verlieren, wenn wir nicht Bücher, Theaterstücke oder Filme, sondern die Gewalt, die in ihnen wiedergespiegelt wird, verböten, verbannten, ächteten? Es würde uns nichts fehlen. Stattdessen gibt es immer wieder Apologeten der Gewalt, die die Unverzichtbarkeit beschwören, um möglicher Gewalt entgegen wirken zu können, gegebenenfalls präventiv. Und genau da beginnt die Gewaltspirale.
Wolf Banitzki
Clockwork Orange
nach dem Roman von Anthony Burgess
Simon Brüker, Friedrich Custodio, Constanze Fennel, Urs Klebe, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Andreas Niedermeier, David Thun, Eugenia Winckler Inszenierung: Andreas Wiedermann |