Teamtheater Tankstelle   Wahlverwandtschaften nach Johann Wolfgang von Goethe


 

3 : 2 für den Tod

Eigentlich sollte es nur eine Novelle werden, die mit anderen in dem großen Schauspielerroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ aufgehen würden. Hintergrund waren Goethes naturwissenschaftliche Studien, in denen er immer wieder Analogien und Phänomene zu entdecken glaubte, die, zumindest symbolisch, Entsprechungen im menschlichen, im gesellschaftlichen Leben fanden. Doch die „Neuigkeit“, wie dieses Genre der Kurzepik übersetzt heißt, wuchs sich aus und wurde in neunmonatiger Arbeit, verteilt über die Jahre 1808 und 1809, ein zweiteiliger Roman. Es wurde nicht nur ein beliebiger Roman, sondern er stand für den Beginn des modernen Gesellschaftsromans, der ungeheure Aufmerksamkeit erregte.

Das Buch wurde sowohl gefeiert als auch verrissen. Letzteres kam vornehmlich aus den Reihen der konservativen Vertreter des deutschen Geisteslebens. Einer tat sich dabei besonders hervor. Der ehemalige Goethefreund Friedrich Jacobi schrieb am 10. Januar 1810 mit einigem Entsetzen nach der Lektüre: „Dieses Goethesche Werk ist durch und durch materialistisch oder wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch. Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit; man dürfte sagen: die Himmelfahrt der bösen Lust.“ Jacobi war augenscheinlich entgangen, dass er in Goethe einen Pantheisten vor sich hatte, dem Fleischlichkeit und Geistlichkeit untrennbar verschmolzen war. Aber auch andere Größen der Zeit waren sichtlich überfordert. Tieck nannte den Roman „Qualverwandtschaften“; Börne nannte ihn einen „chemischen Roman“. Es herrschte ein konfuses Durcheinander aus Unverständnis und Enthusiasmus, emotionaler Ergriffenheit und rationaler Verstörtheit

Aus heutiger Sicht mutet der Roman natürlich antiquiert an, weil die Protagonisten eigentlich nie wirklich „zur Sache kommen“ und mit äußerster Sorgfalt immer wieder Konstellationen herbeiführen, die eine verbale Auseinandersetzung ermöglichen. Alles hat „Artigkeit“. Zum besseren Verständnis für die jüngeren Mitbürger: man folgte nicht dem ersten emotionalen Impuls, sondern bemühte sich, Klarheit über die Konsequenzen des Handelns zu erlangen. Tatsächlich ist der ganze Roman ein einziges mentales und emotionales Bemühen, der Liebesfalle zu entrinnen. Man kann wohl davon ausgehen, siehe auch das Drama „Stella“, dass es sich dabei um ein Lieblingsthema Goethes handelte.

Die Geschichte spielte in feudalen Adelskreisen, wobei Goethe nicht müde würde, bürgerliche Tugenden unterzubringen. Der Gutsherr Baron Eduard lebt mit seiner Angetrauten Charlotte auf einem Gut, auf dem es gehörigen Gestaltungsbedarf gibt. Beide sind in zweiter Ehe miteinander verbunden; ihre ersten Ehen waren Mesalliancen, die sich zumindest finanziell für beide gelohnt und sie sorgenfrei gemacht haben. Eduard möchte das Gut und die umliegenden Landschaften neu gestalten, hat ziemlich genaue Pläne, jedoch nicht die praktische Erfahrung, diese sinnvoll umzusetzen. Also lädt er einen Freund ein, einen tatkräftigen, tugendhaften Mann, der, in der gehobenen Gesellschaft als Unterhalter fungierend, unausgelastet und frustriert ist. Der Mann, man feiert ihn am Namenstag für den Namen Otto, bleibt beinahe namenlos, ist anfangs der Hauptman, im zweiten Teil, nach einer Beförderung, der Major. Der Hauptmann, soviel sei verraten, hegte seit Jahren eine innige Zuneigung Charlotte gegenüber. Charlotte hat eine Tochter, Luciane, im heiratsfähigem Alter, die gemeinsam mit einer Nichte, Ottilie, in einer Pension ihrer Lebensreife entgegengehen. Als Luciane, die nun günstig verheiratet werden muss, die Pension verlässt und an einen attraktiven Hof geht, beschließt Charlotte, Ottilie zu sich und dem Baron zu nehmen. Eduard sträubt sich ein artiges Weilchen, sieht aber dann doch die Möglichkeit, den Hauptmann mit holder Weiblichkeit zu versorgen. Die beiden kommen und alles beginnt gedeihlich zu sprießen.

  Die Wahlverwandtschaften  
 

Laura Tashina, Clemens Nicol, Lisa Wittemer, Ferdinand Ascher

Foto: Clemens Nichol

 

In einem abendlichen Gespräch erläutern die beiden Herren den Damen das chemische Verhalten von bestimmten Stoffen, die bei der Hinzufügung eines dritten Stoffes ihre chemische Bindung aufgeben und mit dem anderen Stoff eine neue, eine zwingende eingehen. Die Herren nennen es „Wahlverwandtschaften“ und spätestens hier weiß der vorausschauende Leser, worauf es hinausläuft. Eduard verliebt sich in Ottilie, Charlotte in den Hauptmann. Tatsächlich sollen sie zu einander nicht kommen und das Ganze endet sehr drastisch. Allein, das Bemühen aller Beteiligten, die nicht nur auf die vier Liebenden beschränkt bleiben, könnte ein psychologisches Kompendium füllen.

Goethes Verdienst bestand vornehmlich darin, ein Werk von unglaublicher Komplexität geschaffen zu haben, in dem sämtliche Figuren in ihren Widersprüchlichkeiten vorgeführt werden. Diese spiegeln sich allerdings erst in ihrer Bezogenheit zueinander. Eduards Weichlichkeit steht seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber, wenn es um seine Liebe zu Ottilie geht. So nennt er den Beischlaf mit seiner Ehefrau, einen Moment der Schwäche, angesichts seiner Liebe zu Ottilie ein „Verbrechen“. Die Besonnenheit des Hauptmanns entpuppt sich angesichts der Verwirrung seines Freundes als Mangel und auch Charlottes strenge Umsicht kapitulierte vor der Anmut des schönen jungen Mädchens. Goethe enthielt sich dabei einer Wertung und beließ es bei der Darstellung verschiedener Haltungen. Er gestand seine eigene Unzulänglichkeit, die Problematik erschöpfend behandeln zu können und bekannte noch 1827: „Da sich gar manches unserer Erfahrung nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspielende Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.“

Andreas Wiedermann verzichtete in seiner dramatisierten Fassung des Romans auf die Episoden des zweiten Teils, in denen die Konflikte eine weitere Überhöhung erfahren und beließ es bei der unerfüllten Liebe zwischen den vier Protagonisten, die nur Charlotte und der Hauptmann überleben. Eine abgemessene rechteckige Fläche aus Kunstrasen, mehr brauchte es nicht als Bühnenbild. Der Rest waren Sprachkulissen, ergaben sich aus den jeweiligen Szenen und wurden mit einfachen Mitteln durch die Darsteller gespielt. Auf historische oder historisierende Kostüme wurde verzichtet und dennoch entstand kein Widerspruch in Spiel und Sprache, die dem Salonduktus des Spätbarock oder der Klassik entsprach. Wiedermann hatte seine Darsteller angehalten, bei aller Manieriertheit der Syntax eine weitestgehend natürliche Haltung anzunehmen, was bei aller Gespreiztheit, die den Gedanken bisweilen innewohnte, weitestgehend gelang. Tatsächlich entfaltete die Goethesche Sprache eine wunderbare Leichtigkeit, Melodiösität und einen geschmeidigen Rhythmus. Alle vier Darsteller erwiesen sich als gleichermaßen befähigt, diese überhöhte Kunstsprache zu bedienen.

Clemens Nicol, zuletzt auf der Bühne des Teamtheaters in „Moby Dick“ in der Rolle des ersten Harpuniers Queequeg, eines wilden, baumstarken Südseeinsulaners zu sehen, fiel der Part des adligen und feinsinnigen Barons Eduard zu. Obgleich er von unbändiger physischer Kraft beseelt zu sein schien, gelangen ihm ohne Problem auch leise und zarte Töne. Ihm gegenüber Lisa Wittemer als Charlotte, aufrecht wie ein Tänzerin, fragil, sehr beherzt und einen raueren Ton gelegentlich nicht meidend, ganz und gar einer Baronesse würdig. Ferdinand Ascher gab einen Hauptmann, der ein Herz und eine Seele mit dem Freund war und der dennoch in seiner Verzagtheit dem Freund gegenüber großen Anteil an dessen Untergang hatte. Laura Tashinas Ottilie indes war die Sonne im Universum des in der Zurückgezogenheit das private Glück suchende adligen Paars. Die Frage, warum sich Eduard früher oder später in sie verlieben musste, stellte sich nicht. Zu anmutig, zu strahlend war ihre Erscheinung. Doch täuschte ihre schöne Maske, ihre berückende Erscheinung nicht darüber hinweg, dass sie bereits stigmatisiert war. In die Pension abgeschoben, winkte ihr keine strahlende Zukunft wie beispielsweise Charlottes Tochter. So war sie trotz aller Vorzüge, die auch darin bestanden, dass sie als Wirtschafterin des Gutes durchaus ihre Frau stand und den Plänen der Männer so manche geschickte Idee beifügen konnte, sehr introvertiert und bescheiden.

Die knapp zwei Stunden wiesen, obgleich viel theoretisiert, lamentiert und philosophiert wurde, keine Längen auf. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass es Andreas Wiedermann gelungen war, die komischen Züge der Personen und auch der Situationen sichtbar zu machen, ohne, wie heute durchaus üblich, ins Kabarettistische abzugleiten. Zu sehen war ein spannendes Kammerspiel tragödischen Ausmaßes. Es stirbt darin ein Kind von nicht einmal einem Jahr, eine junge, überaus begehrenswerte Frau und der Baron Edmund. Um es sportlich zu formulieren, es endete 3 zu 2 für den Tod. Der rauchig-melancholische Abgesang war, von wem auch sonst, von Tom Waits.

 

Wolf Banitzki

 


Wahlverwandtschaften

nach dem gleichnamigen Roman von Johann Wolfgang von Goethe

Ferdinand Ascher, Clemens Nicol, Laura Tashina, Lisa Wittemer

Inszenierung Andreas Wiedermann