Teamtheater Tankstelle Der Zauberberg nach Thomas Mann


 

300 Seiten/h – Es funktionierte!

Hans Castorp, angehender Ingenieur und zukünftiger Schiffbauer aus Hamburg, reist nach Davos. Dort hält sich sein lungenkranker Vetter Joachim Ziemßen seit einigen Monaten auf. Hans ist ein wahrer Hans im Glück, denn er lebt in gesicherten Verhältnissen und kann es sich darum leisten, seinen Cousin drei Wochen lang in dem Sanatorium in luftiger Höhe zu besuchen. Dort trifft der „Flachländer“ überraschender Weise auf eine höchst skurrile bürgerliche Gesellschaft, die aus der Welt gefallen zu sein scheint. Das erkennt Castorp zuallererst an deren Umgang mit der Zeit. Sie ist herausgelöst aus einer durchrationalisierten Welt, deren wohl blödsinnigster Spruch lautet: „Zeit ist Geld!“ Castorp, selbst Techniker und rational veranlagt, sieht sich plötzlich mit der Poesie des Vergänglichen, mit der Verheißung der Spiritualität, mit der schwer fassbaren Dimensionaliät der Liebe konfrontiert. Der Berg wird nicht von ungefähr als „Zauberberg“ begriffen, denn schon nach kürzester Zeit, jeder Insasse und jedes Mitglied des medizinischen Personals erwartet das, bricht auch in Hans Castorp eine bis dato schlummernde Lungenerkrankung aus, die zwar vergleichsweise harmlos verläuft und schnell ausheilt, ihn dennoch sieben Jahre an den Ort fesselt. Entlassen wird der junge Mann in einen mörderischen Krieg, in die reale Welt des Jahres 1919.

Thomas Mann begann den Text 1912 als Novelle. Er verstand ihn als „Satyrspiel“, als heiter-positives Gegenstück zu seiner gerade fertiggestellten Novelle „Der Tod in Venedig“, einer „novellistischen Tragödie der Entwürdigung“, wie er konstatierte, in dem der „Tod als komische Figur“ um seinen Erfolg gebracht werden soll. Allerdings hatte Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt noch keine rechte Vorstellung, wie dieser „Triumph des Lebens über den Tod überzeugend motiviert werden sollte“. Und so wuchs sich die kleine Geschichte, die ihre novellistische Herkunft nicht leugnen kann, zu einem üppigen Roman aus. Im Prozess des Schreibens wurde dem Autor klar, dass er von einer Zeit berichtete, die es so nicht mehr gab, von einer Zeit „vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklüfteten Wende und Grenze“. Diese Zeitenwende deutet sich auch im Sanatorium an. Sympathischer Vertreter eines Humanismus, der längst in die Phase der Dämmerung eingetreten war, ist der italienische Nachfahre von Freiheitskämpfern, der vernunftgläubige Aufklärer und bürgerliche Demokrat Settembrini. Ihm gegenüber steht der Jesuit Naphta, der Settembrini in beunruhigender Weise überlegen zu sein scheint, entlarvt er Settembrinis Thesen doch als unhaltbare Beschränktheit und hilflos romantische Philanthropie. In der schillernden Figur Leo Naphtas nehmen Thomas Manns düsterste Ahnungen Gestalt an. Dessen buntschillernde Mixtur aus Kapitalismuskritik, klerikal und faschistisch eingefärbte soziale Demagogie und sein Nihilismus verkörpern für Thomas Mann die „Kinderkrankheiten“ des neuen heraufziehenden Zeitalters, das, so der Autor, einen neuen Humanismus gebären würde. Weit gefehlt, wie die Geschichte zeigte. Thomas Mann entledigte sich dieser Figur auf wenig überzeugende Weise. Naphta wendet die Pistole gegen sich, als Settembrini im Duell mit ihm, seinem Gegenspieler, „hochherzig“ in die Luft geschossen hatte. Dieses Eingeständnis des geistigen und moralischen Bankrotts überzeugt nicht wirklich.

Es ist fraglos ein gewaltiges und hochriskantes Unterfangen, diesen 1000seitigen Roman auf die Bühne zu bringen. Immerhin weist die Spielfassung von Vera Sturm und Herrmann Beil echte dramatische Qualitäten auf und so lief auch die Inszenierung von Andreas Wiedermann im Teamtheater Tankstelle auf bestes Spiel- und nicht wie üblich bei Prosavorlagen auf Deklamationstheater hinaus. In seiner Lesart rückte Regisseur Wiedermann allerdings weniger den weltanschaulichen Disput zwischen Settembrini, ganz wunderbar lebendig gespielt von Constanze Fennel, und Naphta, ein somnambuler, dem irdischen scheinbar abhanden gekommener Urs Klebe, in den Vordergrund, sondern vielmehr die prismatisch aufgefächerte Gefühlslage einer untergehenden gesellschaftlichen Schicht, die schon ihrerzeit auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“ war. Und er tat gut daran, denn zwei wesentliche unausgesprochene Argumente flankierten die Geschichte aus der Vergangenheit: die zwei schlimmsten und katastrophalsten Weltkriege der (vorläufigen) Menschheitsgeschichte. Soviel historisches Wissen und Gefühl kann dem Publikum allemal abgefordert werden. Die Premiere erbrachte den Beweis.

  Der Zauberberg  
 

Ensemble

© Uli Scharrer

 

Was das Publikum in den 165 Minuten (ohne Pause) erlebte, war kurzweiliges, spielfreudiges Theater, nicht gänzlich frei von szenischem Holpern, das wohl in erster Linie der Größe der Bühne, oder besser deren Begrenztheit geschuldet war. Immerhin war sie von bis zu zwölf Darstellern bevölkert und manchem gelungenen szenischen Einfall, der an der Peripherie der Handlung ablief, war nicht der nötige Raum und die Aufmerksamkeit vergönnt. Es tat dem Gesamtbild der Inszenierung jedoch keinen Abbruch, die sich sehr um die Komik der Geschichte und der Figuren bemühte. Das mag auf dem ersten Blick ein wenig unglaubhaft erscheinen und in der Tat denkt man bei hanseatisch, und das ist wohl eine Grundfarbe der Kunst Thomas Manns, nicht unbedingt an Komik. Dennoch war sie drin und Wiedermann kitzelte sie heraus. Besonders Clemens Nicol profitierte in der Rolle des Hofrat Behrens davon. Allein, dieser doppelbödigen Komik, resultierend aus der Selbstentlarvung und –entblößung, zum Beispiel wenn Behrens, der auch malt und bildhauert, seine Kunstauffassung darlegt, ist das heutige Publikum durch Comedy und allgegenwärtige plattitüdenhafte Kalauerei ziemlich entwöhnt. Es war allemal Komik auf hohem Niveau.

Und es war wieder einmal solides Ensembletheater, in dem sämtliche Darsteller deutliche Charaktere in die Bühnenwelt brachten. Herausragend waren, ohne dabei die Ensembleleistung schmälern zu wollen, bereits oben genannte Constanze Fennel als Settembrini und Clemens Nicol als Behrens. Letzterer profitiert natürlich auch von seiner physischen Präsenz und Stimmgewalt. David Thun durchlief als Hans Castorp glaubhaft eine Metamorphose vom nüchternen Skeptiker zum liebenden Schwärmer. Die entgegengesetzte Entwicklung durchlief sein Cousin Joachim Ziemßen. Von mangelndem Selbstwertgefühl wegen seiner Krankheit befreite er sich durch die wahnhafte Vorstellung, dieses Manko im Krieg wettmachen zu können. Simon Brüker überzeugte mit seiner Gestaltung. Ebenso überzeugte Christina Matschoss in der Rolle der Clawdia Chauchat, einer sehnsuchtsvollen Frau auf der Flucht vor sich selbst, für die ein Sanatoriumsaufenthalt einen ebensolchen Stellenwert hat wie eine Vergnügungsreise an die Côte d'Azur oder ein Ballbesuch. Überaus komisch waren die Überzeichnungen der Figuren des Dr. Krokowski (Andreas Niedermeier), der Zwergin (Sönke Küper) oder der schwäbelnden Frau Stöhr (Conny Krause). Gerade diese Figuren verwandelten den großen Roman in eine Groteske, was sich als durchaus legitime Lesart erwies.

Zudem war es ein sehr musikalischer Abend, denn die fast dreistündige Inszenierung war gespickt mit musikalischen Live-Einlagen, von Sarabande bis Wiegenlied, von Flick-Flack bis singende Säge. Wiedermann weiß mit Musik zu handeln. Sie ist stets ein inszenatorischer Gewinn. Stellt sich die Frage, was die Inszenierung nicht war? Sie war, bei aller unübersehbaren Aktualität kein Diskurstheater, das die brennenden Probleme unserer Zeit thematisierte und durchkaute. Der Versuch, politische Themen als solche auf die Bühne zu bringen, mag zu Einsichten führen, es mag auch Impulse geben, es hat allerdings in den seltensten Fällen gutes Theater hervorgebracht. Und gutes Theater ist, wenn der Zuschauer verändert, weitsichtiger, moralisch gewachsener, gut unterhalten und nicht mit einem Katalog politischer Forderungen im Kopf das Theater verlässt. Der Roman von Thomas Mann ist ein großartiges Kunstwerk, sprachlich und kompositorisch, doch betrachtet man die philosophischen und gesellschaftlichen Aspekte, tun sich beträchtliche Mängel auf. Dennoch: Die Krisenhaftigkeit des bürgerlichen Daseins schimmert immer durch und das macht den Roman so wertvoll und zeitlos, denn überwunden ist sie ja keinesfalls. Selten war die Krisenhaftigkeit so deutlich sichtbar wie im Moment. Die Welt steckt auch und vor allem in der Krise, weil sie sich die große Frage nach dem Sinn des kapitalistischen Systems nach dem kläglichen Scheitern des Sozialismus (wohlgemerkt nicht der Ideen, sondern deren Protagonisten) nicht zu fragen getraut. Aus dem Teamtheater ging man indes mit dem untrüglichen Gefühl, dass wir uns endlich was Neues einfallen lassen sollten, um zu verhindern, dass Menschen wie Hans Castorp, den man unweigerlich ins Herz geschlossen hatte, nicht so enden müssen wie sie bislang auf sinnlose Weise endeten.

Wolf Banitzki

 


Der Zauberberg

nach dem Roman von Thomas Mann
Fassung von Vera Sturm und Herrmann Beil

Franz Brandhuber, Simon Brüker, Constanze Fennel, Urs Klebe, Conny Krause, Sönke Küper, Matthias Lettner, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Andreas Niedermeier, Eva-Maria Piringer und David Thun

Instrumentalisten: Andreas Hirth, Martina Mühlpointner, Linda Nolte

Regie: Andreas Wiedermann
Musik: Bernhard Zink