Theater Viel Lärm um Nichts Die Menschenfabrik Nach einer phantastischen Erzählung von Oskar Panizza
Aufzeichnungen eines „Psichopathen“
„Mir war, als kehrte ich von einem grauenhaften Ausflug ins Schattenreich zur Welt zurück, die ich mit all ihrem Jammer vor Entzücken an mein Herz hätte drücken können.“ Der sich dieser Empfindung rühmen durfte, war ein verirrter Wanderer, der eine Nacht durchlebt hatte, wie sie der Gruselpoet Edgar Allen Poe nicht fürchterlicher hätte ersinnen können. Doch der Autor dieser fantastischen Kurzgeschichte war nicht Poe, sondern Leopold Hermann Oskar Panizza. Darin wird Panizza, der Autor ist unverkennbar auch sein Held, Zeuge einer Fabrikationsstätte, in der Menschen produziert werden. Das Geschäft scheint gut zu laufen, der Produktionsausstoß ist hoch. Wie auch nicht, erfüllen die Kunst-Menschen doch viel eher und besser die Anforderungen der Natur-Menschen.
Das Denken hat man abgestellt. Sie funktionieren, von wenigen technischen Pannen abgesehen, einwandfrei. Die Wesen sind für unterschiedlichste Zwecke konzipiert und weisen keinerlei Nebenwirkungen auf. Das wirft bei dem verirrten Wanderer eine Frage auf: „Und wenn die neue Rasse nach einem bestimmten, reif überdachten Plan gemacht ist, besitzt sie vielleicht größere Fähigkeiten als wir, wird im Kampf ums Dasein den alten Erdenbewohnern überlegen sein! – Ein fürchterlicher Zusammenstoß muß erfolgen!“ Und wenig später ergeht die Gretchen-Frage an den Direktor der Menschenfabrik: „Was ist Ihr Ziel? – Ein Umsturz der gegenwärtigen Gesellschafts-Ordnung!“ Nichts dergleichen, versichert der kleine, schwarz gekleidete Mann. Es ist ein Geschäft.
Das macht die Sache in den Augen des Wanderers nicht besser, denn diese Kunst-Wesen sind frei von Moral: „Die Moral, als Grundlage unseres Denkens und Handelns, hört auf! – Neue Gesetze müssen geschaffen werden!“ Der Vorschlag des Mannes, diese technischen Möglichkeiten zu nutzen, um eine „Moral-Rasse“ zu schaffen, die „als leuchtendes Beispiel ihren fleischlich gesinnten Brüdern und Schwestern stets vor Augen stünde“, tut der Direktor mit dem knappen Einwurf ab: „Die wäre absolut unverkäuflich!“ Doch der Wanderer lässt nicht locker: „Denken Sie, welcher Fortschritt für die ethische Entwicklung unseres Menschengeschlechts, dessen Moral zur Zeit so schon im argen liegt!“ Der Alte erwidert nüchtern: „Sie sind ein Idealist!“
Der verirrte Wanderer, der in seiner Not gegen Mitternacht an die Pforten eines gewaltigen Fabrikgebäudes pochte und freundlich eingelassen wurde, erlebte einen horriblen fantastischen Albtraum. Oskar Panizza nahm damit etwas vorweg, was heute Realität zu werden beginnt. Seit einiger Zeit werden Forderungen nach einer Ethik für künstliche Intelligenz laut. Der Weg von der (scheinbar fantastischen) Idee bis zur Realisierung dauert heute nur noch ein Bruchteil der Zeit, die im Industriezeitalter des 20. Jahrhundert benötigt wurde. Angesichts der Tatsache, dass diese Geschichte um 1890 verfasst wurde, kann Oskar Panizza durchaus als ein Visionär bezeichnet wurde. Dabei sind es nicht die Vorstellungen von den technischen Errungenschaften, die zur Herstellung künstlicher Menschen führen, sondern die ethischen Fragen, die diese Technologie aufwirft. Es ist aus der Geschichte hinlänglich bekannt, dass der Mensch alles denkbare auch in die Realität umsetzt, ohne sich vorab zu den Konsequenzen zu befragen.
Andreas Mayer, Margrit Carls, Ardhi Engl, Kathrin Knöpfle © Hilda Lobinger |
Und wenn es dann doch einer tut, und zwar lange bevor das Problem als solches auftritt, wird er erst einmal als Narr gehandelt. Oskar Panizza ereilte eben dieses Schicksal. Der promovierte Mediziner stürzt sich, als er glaubte, verrückt zu werden, in die Literatur. Er legte sich mit dem wilhelminischen Staat und der katholischen Kirche an (Jeder gesunde Mensch hätte diesen Impuls haben müssen!) und sieht sich alsbald zwischen den Mahlsteinen der Justiz. Sein Werk „Das Liebeskonzil – eine Himmelstragödie“ führte zu einem exemplarischen Skandal, an dessen Ende eine einjährige Haftstrafe stand. Letztlich musste er, nicht unfreiwillig, die letzten 16 Jahre seines Lebens in Irrenanstalten zubringen.
Margrit Carls brachte den Prosaalbtraum in eine dramatische Form und Andreas Seyferth diesen auf die Bühne des Theaters „Viel Lärm um Nichts“. Um diesem Albtraum auch auf der Bühne zu einem solchen zu machen, holte Andreas Seyferth die Stimm- und Bewegungskünstlerin Urte Gudian und den Klang- und Videotüftler Ardhi Engl mit ins Boot. Gemeinsam schufen sie eine hochartifizielle, multimediale Inszenierung, in der alle Elemente, Schauspiel, Tanz, Klang, Raum (Peter Schultze) und Videokunst (Ardhi Engel) organisch miteinander verschmolzen. Heraus kam ein psychedelischer Bilderreigen, der sich allerdings nicht in Bildern und Klängen erschöpfte, sondern stringent der Grundidee der Panizza-Vorlage folgte. Das gewährleisteten Margrit Carls als das schwarze Männlein und Andreas Mayer als der verirrte Wanderer. Mayers Spielgestus traf sich durchaus mit der Vorstellung vom Menschen Oskar Panizza, dessen Themen überwiegend autobiografisch geprägt waren, dienten sie doch nicht selten der Selbsttherapie des psychisch labilen Schriftstellers. Andreas Mayer gab einen gehetzten, aber aufbegehrenden jungen Mann, dem alle Zerrissenheit überdeutlich anzusehen war. Margrit Carls schwarzes Männlein wirkte skurril in der Erscheinung, transzendent in Gestus und Sprache. Im Prosatext wird das schwarze Männlein gefragt, was er eigentlich sei, Kunst- oder Natur-Mensch. Die Frage wird nicht in aller Deutlichkeit beantwortet. Auch das Kostüm von Johannes Schrödl, bestehend aus weißem Kopfverband, schwarzem Frack, darüber ein schwarzes Rüschen-Stützkorsett und mit schwarzrandiger Brille beantwortete diese Frage nicht eindeutig. Irgendwie erinnerte Frau Carls an Harold Lloyd, der seine Komik häufig aus seiner Erscheinung zog. Urte Gudian und Kathrin Knöpfle vervollkommneten das Ensemble als Geister der Nacht, Werkmeisterin und das verführerische Produkt, oder, am Ende, einfach nur Bürgerinnen, die den Wanderer und das Publikum in die Realität zurückbrachten.
Es war eine kurzweilige und inszenatorisch gelungene Inszenierung in denen sämtliche Aktionen und Interaktionen, realisiert mit den denkbar unterschiedlichsten Mitteln, bestens funktionierten. Es war eine Augenweide Kathrin Knöpfles Verführungstanz anzuschauen. Die Choreografien Urte Gudian brachten Inhalt und Stimmungen auf den Punkt. Ardhi Engls z.T. sehr ungewöhnliche Klangkulissen, die Helene Fischer geschulten Hörgewohnheiten nicht unbedingt schmeichelten, waren erregend und aufregend. Wenn die Macher ihre Inszenierung als „Amalgam aus Tanz, Klang, Schauspiel & Video“ bewerben, kann ohne Vorbehalte zugestimmt werden. Heraus kam eine glänzende, wertvolle Legierung, die den Alchimisten zur Ehre gereichte. Darüber hinaus soll aber auch auf das Verdienst verwiesen werden, dass dem Team mit der Wiederentdeckung Oskar Panizzas gebührt. Dieser Autor ist durchaus originell und seine Werke haben ihre Reize, auch oder vielleicht gerade, wenn der Literaturrezensent Dieter Wenk über sie schreibt: „Manche (…) der Erzählungen lesen sich wie ein etwas zu sehr in die Länge gezogener Witz, dessen Pointe ziemlich abstrus ist und man sich fragt, auf welchem Register der Ernsthaftigkeit dieser Autor spielt. Mehr als einmal sagt man sich, dass das doch nicht wahr sein darf. Dass man so etwas Bescheuertes schon lange nicht mehr gelesen hat.“ (In: Gewinn von Hopfen und Malz)
Wann vermochte Literatur zuletzt in so ungläubiges Erstaunen versetzen? Die zeitgenössische Literatur leistet das kaum. Wie auch, wenn die Autoren aus den Brutkästen des saturierten Kulturbetriebes schlüpfen und zuallererst, noch vor dem Leben, ihre Autobiografien schreiben. Lassen wir also Oskar Panizza das letzte Wort: "Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopathe, und benutze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruck zu bringen. Ich will nur meine Seele offenbaren, dieses jammernde Tier, welches nach Hilfe schreit."
Wolf Banitzki
Die Menschenfabrik
Nach einer phantastischen Erzählung von Oskar Panizza
Andreas Mayer, Margrit Carls, Ardhi Engl, Urte Gudian, Kathrin Knöpfle
Regie: Andreas Seyferth