Theater Viel Lärm um Nichts Hadschi Murat von Lew Tolstoi


 

 

 
Helden und ihre Schöpfer

Lew Tolstois Geschichte und Margit Carls Dramatisierung derselben entführte den Zuschauer in die zauberhafte und gleichsam grausame Welt der Kaukasischen Berge. Eine Stimme aus dem Off (Andreas Seyferth) erzählte vom misslungenen Versuch, eine Tartarendistel für einen Blumenstrauß zu pflücken. Die Distel ging bei diesem Versuch zu Schanden. Als der Erzähler am Ende des Stücks auch seine Parabel vollendete, war der Betrachter Zeuge unerhörter blutiger Ereignisse geworden, die gar nicht weit entfernt andauern, und zwar seit gut vierhundert Jahren. Die Zahlen der Opfer haben die Million längst überschritten und niemand nimmt wirklich daran Anteil. Die Vorgänge taugen heute höchstens dazu, Nachrichtenlücken zu schließen, bevor die Bundesliga-Fußballergebnisse tabellarisch aufbereitet gereicht werden. Die Rede ist von Tschetschenien.

Der große Moralist Lew Tolstoi (1828-1910), Autor von "Anna Karenina", "Krieg und Frieden", "Die Kreuzersonate" und anderen großartigen Werken der Weltliteratur, hinterließ der Nachwelt eine Erzählung, die in einer Zeit geschrieben wurde, in der Tolstoi von sich selbst meinte, er sei am Abgrund angelangt. "Hadschi Murat" ist die Geschichte eines Heldenlebens. Sie spiegelt aber weit mehr wider als den Kampf eines Awaren aus Dagestan. Die Geschichte reflektiert das verzweifelte Ringen ganzer Völker um Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Die Geschichte der kaukasischen Völker ist die Geschichte von Verfolgung, Okkupation, Verrat und Tod. Wer das Faltblatt zum Programmheft liest, den schaudert es. Es macht aber auch zornig über das eigene Versangen und das Versagen der wohlbestallten europäischen Politiker, die die Augen schließen, weil Interessen dies für geboten erscheinen lassen.

Autorin Margit Carls und Regisseur Andreas Seyferth politisieren und ideologisieren nicht. Sie nutzen die aufrichtige und mutige Geschichte von Tolstoi, um mit der lyrischen Wildheit und Schwermut kaukasisch-russischer Begebenheiten nach den Herzen der Zuschauer zu tasten. Die Textvorlage ist schwerlich als Drama zu bezeichnen. Vielmehr ist es ein mosaikartiger Reigen von Erzählungen und Szenen, an deren Ende ein objektiviertes Bild vom "Helden" Murat steht. Genau genommen war er wohl ein Held wider Willen.
 

Anna Budde, Robert Heinle
Hintergrund: Urte Gudian, Margrit Carls

© Hilda Lobinger

 

In der Gesamtheit betrachtet, erlebte der Zuschauer ein fremdartiges, aus der Historie aufsteigendes Schicksal, das exemplarisch für ein ganzes Volk ist. Murat verteidigt lediglich sein eigenes und das Leben seiner Familie. Durch den Akt der Selbstverteidigung und seinen unbändigen Drang nach Freiheit, gewinnt seine Person Symbolcharakter. Murat ist aber zugleich den unbarmherzigen, weil stupiden Interessen Einzelner ausgeliefert und wird so zum tragischen Helden. Mit seiner Kompromissbereitschaft endet gleichsam seine Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben für sich und die Seinen.

Andreas Seyferth versuchte gar nicht erst, den Zuschauern in Spielszenen Figuren vorzuführen, die Identifikation zuließen. Die Inszenierung war epischer Kommentar zu einer großen Geschichte, die sich immer wieder in gestischen Andeutungen erging und Momente hoher Spannung erzeugte. Die vier Darsteller schlüpften in jede erdenkliche Rolle. Winzig anmutende Details schufen dabei die Unterschiede. Russische Offiziere und Beamte, Besatzer im Lande der freiheitsliebenden Bevölkerung, trugen Teilmasken. Während der Kaukasier seinem Gegenüber ins Auge schaute, blieb der Beweggrund, die Gefühlslage der Okkupanten unergründlich. Einzig das Wort verriet die Abgründigkeit perfiden kolonisatorischen Denkens. Selbst der Zar wurde nicht verschont. Er entpuppte sich als dümmlicher eitler Geselle, der sich der Tragweite seines Handelns, und er handelte barbarisch, nicht bewusst war.

Der artifizielle Ansatz aller Darsteller ist unbestritten, hätte aber keineswegs zu dem Ergebnis geführt, auf das das Ensemble letztlich stolz sein kann. Die Aufführung wurde permanent durch Klang und Tanz kontrastiert. Urte Gudian und Ardhi Engl erzeugten neben der Sprache fühlbare Stimmungen, die die Inhalte der Szenen vorgaben oder provozieren wollten. Die Erzeugung eines Klangteppichs durch Ardhi Engl gelang dezent und unaufdringlich. Die Musik erreicht den Zuschauer, ohne ihn von den szenischen Vorgängen abzulenken. Urte Gudian wurde in ihrer Bewegung zur Verkörperung der kaukasischen Seele, gedemütigt und gepeinigt, aufbegehrend und stolz. Regisseur Seyferth gelang die Verknüpfung zwischen szenischer Darstellung, Klang und Bewegung zu einem homogenen Werk.

Neben der künstlerischen Leistung vermittelte diese Arbeit ein Höchstmaß an historischer und politischer Aufklärung. Hier ließ sich ein Team nicht von der blödsinnigen These abschrecken, weltanschauliches Engagement schade dem Kunstgenuss nur. Hier wurde ein Team auch seiner Verantwortung gerecht.

 
Wolf Banitzki

 

 


Hadschi Murat

von Lew Tolstoi

Anna Budde, Margit Carls, Walter von Hauff, Robert Heinle, Urte Gudian und Ardhi Engl

Regie : Andreas Seyferth