Kolumne


 

 Blick in die Zukunft der Vergangenheit

 

Eine Aufgabe der Kunst ist es, das Leben unsterblich zu machen. Wer dies zu bewerkstelligen vermag, ist wahrhaft Künstler zu nennen. Sein Werk ist wie der Mythos Prometheus an den Fels gekettet und dient den verständigen Adlern bis in die Ewigkeit zu geistiger Stärkung, hält Erinnerung lebendig. Der Hunger treibt die Kreatur voran, scheint unermesslich. Doch nicht allein dieser treibt voran, immer wieder gelangt man nur an bereits Erfahrenes. „Warum neu anfangen den alten Kreis ...“, wie Heiner Müller schrieb? Nun, es liegt noch nicht in des Menschen Hand diesen scheinbaren Kreis zu verlassen. Und so bewegt sich ein einzigartiges Kunstwerk der Götter über die Bühne des Universums, wie sich ein Theaterstück vor den Augen des Publikums auf einer Bühne entfaltet.

Es ist eine feine spiralförmige Bahn, auf der der Fels des Lebens durch den Raum zieht. Die an den Fels Geketteten erfahren in ihrer Geschichte Wiederholungen, Abwandlungen von scheinbar ein und derselben Dramaturgie. Sie wähnen sich getrennt von einander und sind doch untrennbar miteinander verbunden. Sie versuchen sich in, in der Natur erkannten Ordnungen, um letztlich doch wieder in der Übertreibung von Unordnung an sich selbst zu scheitern. Stets die Vergangenheit im Sinn, sucht ihr Blick die Zukunft. Es ist ein Wunder, dass der Fels noch seine Bahn zieht und diese höchst eigenartige Spezies in ihrer Arbeitswut, noch nicht alle Steine, den Fels per se zu Zement zermahlen hat. „Die Arbeit ist unser Himmel“, benannte Heiner Müller diese Haltung.

Die Materie, im Himmel wie auf der Erde, folgt physikalischen Gesetzen, welche den Prozess einer Wahrnehmung wiedergeben. Wie schon Heisenberg in der von ihm definierten Unschärferelation feststellte: Der Beobachter kann seinen Focus immer nur auf einen Teil der komplementären Eigenschaft richten. Und so, errichten diese Spezis Mauern, zementieren Grenzen, spannen Stacheldrähte und verdammen jene jenseits ihrer Schutzwälle. Sie zeigen mit Fingern auf ihre gegenüber, erklären sie zu Feinden. Allein vergeblich. Zeigen sie doch immer nur auch auf sich selbst, als Teil der Spezies Mensch in einem Zeitalter, die einem Impuls folgt. Revolution, Umwälzung und Krieg herrschten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, weltweit. Man vergaß, dass danach in Europa, zwischen den kommunistischen und den kapitalistischen Mächten, zwischen Ost und West, Sozialismus als Gesellschaftsform etabliert war. Sozialismus ( lat. socialis >Gesellig<keit) in kapitalistischer oder kommunistischer Ausprägung. Ideologien leiteten die willfährigsten Figuren, versahen diese mit ihrer Macht. Seit der Aufhebung dieser offensichtlichen Grenze in Europa bestätigten die Verwaltungen einander gegenseitig, zementierten ihre Über-Macht.  

Beton mit Zement, der Baustoff des 20. Jahrhunderts. Bürokratie, die Tyrannei des 20. Jahrhunderts. Bürokratie, heute allzu oft verwechselt mit Demokratie, gibt sich mittlerweile selbstherrlich absolutistisch, ist eine unmenschliche gnadenlose Diktatur, die sich selbst legitimiert. „Papier schlägt Papier.“ Heiner Müller. Und das bis heute. Massenhaft. Dabei ist die Verwaltung und die Produktion von Mangel, die herausragende Eigenschaft von Bürokratie. Ob es die einseitige rücksichtslose Ausbeutung von Ländern und Menschen der so genannten Dritten Welt ist, oder die aufgesetzte selbstverherrlichende Planwirtschaft des realisierten Kommunismus, macht keinen wesentlichen Unterschied. In beiden Sphären hinterließ der ideologisierte Apparat Millionen Tote und verheertes Land, ein ganzes Jahrhundert lang und ...

Dimiter Gotscheff gestaltete mit seiner Inszenierung des Werkes „Zement“ von Heiner Müller am Residenztheater, das essentielle hervorhebende Bilder auf die Menschen in der Geschichte einer Revolution. Der zu einem Teil, dem Theaterstück folgend, dem Kommunistischen System im Osten galt, der aber gleichzeitig auch ein Blick auf das Kapitalistische System im Westen war. Grundlegende, im menschlichen Organismus angelegte, durch die Figur und die Geschichte des Prometheus veranschaulichte, Verhaltensweisen prägen beide Gesellschaftsformen. Die ideologischen Unterscheidungen sind marginal, auf Terminologie beschränkt. Die Wirklichkeit ist der reine Kommunismus – alle Menschen sind gleich - alles gehört allen. Die Realität prägt der Naturalismus – Kraft des Stärkeren. Die derzeitig herrschende gesellschaftliche Realität heißt Kapitalismus – monetäre Adaption des Naturalismus. Die Herausforderung für das nächste Jahrtausend besteht darin, eine dem aktuellen  Wissenstand angemessene Form von Zusammenleben und –arbeiten zu gestalten. Eine große Aufgabe. Diese zu beginnen, forderte Dimiter Gotscheff durch den entsprechend ansprechenden Kunstakt, welcher durch minutiöse Veranschaulichungen scheinbar ausuferte (ganz wie in der gesellschaftlichen Realität, welche darin hartnäckig feige verharrt) und damit aber gemäß aufklärender Tradition dem wachen Menschen den Weg zu Erkenntnis frei legte.

Am Ende des 20. Jahrhunderts begann die Aufhebung der Klassengesellschaft erneut. Die neue Revolution findet jenseits der alten Strukturen und doch unmittelbar zwischen den Menschen statt – unsichtbar. Die Bedienung einer Maschine macht sie alle gleich. Bourgeoisie und Proletariat. Die Aufhebung und Vermischung ist äußerlich zudem heute ein von den Medien gesteuerter Vorgang. Die Kultur- und Traditionsträger werden ebenso zu abhängigen Sklaven erzogen, wie die bildungsfernen Bevölkerungsschichten es bereits sind. Nur der gesteuerte Konsument ist Gut-BürgergenosseIn. Deren geistige Nahrung wird selektiert und vorgekaut. Und, es funktioniert, es funktioniert erstaunlich gut. Vorgelebt wird es durch Figuren ohne visionäre Inhalte, eitle Möchtegerns und sonore Bürokratenkörper die für Politik (öffentliches Leben gestaltend) stehen. Virtuell die Macht, die das Geschehen steuert, dem einzelnen Individualismus und Unabhängigkeit suggeriert. Sie glauben es, alle, und rollen und tragen ihre viereckigen "Steine" bergan, Tag und Nacht. Sie tun dies scheinbar freiwillig, lachend wie Sebastian Blomberg als Tschumalow am Ende einer geschichtsträchtigen Aufführung. Er wähnte sich frei und war doch nur eine einsame Gestalt. Gleich dem, von den Ketten befreiten Prometheus glaubte er an ein Ende der Sklaverei. Es ist der Glaube, der die Hoffnung nährt.

"...Die Gegenwart ist nie unser Ziel. ... Die Zukunft allein ist unser Ziel. Also leben wir nie, wir hoffen zu leben. Und da wir uns immerzu vorbereiten, glücklich zu sein, ist es unvermeidlich, dass wir es niemals sind." Blaise Pascal.

Jede Revolution frisst ihre Kinder. So frisst auch die virtuelle Revolution, die Einführung und Verbreitung der Computertechnologie in alle Lebensbereiche, ihre Verbreiter und Anhänger. Immer weniger Menschen werden zur Erhaltung industrieller Vorgänge benötigt. Immer mehr Menschen werden aus den Produktionsprozessen entlassen, fallen dem Kosten-Nutzen-Prinzip zum Opfer und landen in der Auslagerung. Für Millionen junge Menschen gibt es schlechthin keinen Zugang mehr zum „Himmel“ der Arbeit. Der bürokratische Apparat produziert Floskel um Floskel, Vorschrift um Vorschrift, Gesetz um Gesetz. Er tut dies mechanisch, einem kapitalistischen Programm gemäß und betreibt ideologische Planwirtschaft (Subvention der Landwirtschaft, Lebensmittelvernichtung, Kinderkrippenplätze, Widin-Calafat-Brücke, etc. etc.). Jenseits von offensichtlicher menschlicher Realität. Der Focus des Apparates ist auf Geldbewegung gerichtet - das Leben, die Menschen und ihre Rechte fallen damit aus dessen Wahrnehmung.

Stahl und Glas, die Baustoffe des 21. Jahrhunderts. Virtualität, die Tyrannei des 21. Jahrhunderts. Der Fels dreht sich unbeirrt weiter, wird spiegelbildlich weiter bergan geschoben. „Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“, schrieb Albert Camus bereits Mitte des 20. Jahrhunderts und schaute, durch die Gewissheit seiner Vergangenheit, in seinem Werk auf den wesentlichen Kern. Über-Glücklich, wer sein Leben als jenen „Stein“ zu begreifen in der Lage ist. Glücklich, wer heute seinen Stein findet ... doch im Kampf um diese Steine wird die Menschheit von einem selbstgeschaffenen Apparat zu Zement zerrieben, wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Wirtschaftskrieg geopfert.

 

C.M.Meier

 

 


Bayerisches „Staaatstheater“  Mai 2013: Im Parkett, nahe der Bühne, saßen die Bourgeoisie

und die systemkonformen Drahtzieher. Auf den Rängen saß das intellektuelle Präkariat.

Was hat sich geändert?

 



Mai 2013