Volkstheater Roberto Zucco von Bernard-Marie Koltés
Zucco – Das Böse in uns
Beim Eintritt in den Zuschauerraum wurde der Theaterbesucher von der offenen Bühne empfangen. Darauf ein Baugerüst, drei Stockwerke hoch. Sämtliche Darsteller waren auf oder vor dem Baugerüst präsent. Die Szene wurde vom splitterfasernackten Leon Pfannenmüller als Roberto Zucco gemessenen Schrittes umkreist. Er beobachtete, argwöhnte und wirkte angespannt. Dann begann das Spiel. Pascal Riedel und Justin Mühlenhardt, zwei Gefängniswärter, mutmaßten über Wahrnehmungen, die sie nicht festmachen konnten. Schließlich kamen sie zu der Einsicht, dass wohl ein Häftling geflohen sei. Es war Roberto Zucco, der alles abgelegt hatte, was ihn behindern könnte. Darum also die Nacktheit als Metapher für eine Form von Freiheit. Er floh über die Dächer, der einzige Weg, der ihm als Ausweg geeignet erschien.
Roberto ging Hilfe suchend zu seiner Mutter. Ursula Burkhart als unzugängliche Mutter stieß ihn von sich, denn immerhin hatte Roberto seinen Vater getötet. Sie erliegt seiner Umarmung, wird erstickt. Auf seiner Flucht vergewaltigte er ein Mädchen. Constanze Wächter gestaltete eine junge Frau, die ihren Peiniger dennoch zur Leitfigur erwählte, denn er hatte ihr die Unschuld und somit die Möglichkeit auf ein bürgerliches Leben genommen. Zucco tötete einen müden, ausgebrannten Kommissar (Jean-Luc Bubert), um an dessen Waffe zu gelangen. Schließlich kidnappte er eine Frau und erschoss deren Sohn.
Zucco tötet weder mit Vorsatz oder System, noch mit Emphase. Er tötet aus der Situation heraus, beseitigt jedes Hindernis, das sich ihm in dem Weg stellt. Bis hierhin erinnert das Drama von Bernard-Marie Koltés sehr an den Roman „Der Fremde“ von Albert Camus. Roberto Zucco zeigt kein Gefühl und stellt sich auch nicht den Konsequenzen seines Handelns. Der Unterschied zum erwähnten Werk von Camus besteht darin, dass Zucco einen Ausweg aus dem Dasein sucht, das ihm nicht (mehr) lebenswert erscheint. Leichen pflastern seinen Weg und es ist ihm weitestgehend egal.
© Arno Declair |
Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Im April 1981 tötete Roberto Succo Vater und Mutter und misshandelte die Leichen auf grauenvollste Weise. Nach der Verurteilung und Verbringung in eine psychiatrische Haftanstalt flüchtete er am 15. Mai 1986 über das Dach der Einrichtung. Innerhalb von zwei Jahren tötete er in Frankreich zwei Frauen, einen Arzt und zwei Polizisten, beging in vier europäischen Ländern zahllose Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Geiselnahme und vermutlich auch weitere Tötungsdelikte. Im Februar 1988 wurde er erneut verhaftet. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch nahm er sich in seiner Gefängniszelle in Vicenza das Leben. Roberto Succo war nicht gesellschaftsfähig, aber in seinem Egoismus auch kein Rebell. Er war, so suggeriert es die Geschichte, die Fleischwerdung des Bösen.
Für den jungen Regisseur Miloš Lolić war die Vorlage von Bernard-Marie Koltés bestens geeignet, einen Kriminalfall als Menschheitsdrama auf die Bühne zu bringen, für die er ebenso wie für die Kostüme verantwortlich zeichnete. Er vermied jede Form von Realismus, verfremdete sämtliche Rollen und Vorgänge soweit, dass der Zuschauer einer Handlung folgen konnte, ohne emotional verführt zu werden. Obgleich Miloš Lolić große Bilder schuf und auch im wahrsten Sinn des Wortes bewegte, erzählte er vornehmlich. Im Verlauf der Handlung wurden Versatzstücke von Kunst, Dekor und Realität aus der Menschheitsgeschichte an dem Gerüst plakativ zu einer Pyramide zusammengesetzt, auf dessen Gipfel Zucco vor seinem finalen Sturz thronte. Er hatte etwas prometheisches, wenngleich im negativsten Sinn. Als am Ende die Darsteller in archaischen Kostümen vor der Rampe erschienen, sie erinnerten stark an die wunderbaren Kostüme aus Pier Paolo Pasolinis „Medea“, und einen archaischen Gesang anstimmten, wurde deutlich, dass Miloš Lolić eine Antikentragödie gezaubert hatte.
Einziger Makel war, dass nach dem absoluten erzählerischen, wie auch emotionalen Höhepunk das Bühnenbild von den Darstellern demontiert wurde. Damit wurde ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wirkung wieder zurückgenommen. Besser wäre es gewesen, Lolić hätte das Bild mit dem Sturz Zuccos stehen lassen. Das hätte kathartische Wirkung gehabt und wäre ein starker Abgang gewesen.
Wie schon für „Bluthochzeit“ hatte Miloš Lolić auch für „Roberto Zucco“ eine ausgefeilte, erstaunliche und hervorragend funktionierende Ästhetik geschaffen, die dem Erzählgegenstand bestens entsprach. Dafür gebührt ihm und dem Ensemble höchstes Lob. Es bleibt zu hoffen, dass die vereinzelten Buhs für den Regisseur ungehört verhallten, denn sie entsprangen vermutlich einem Unverständnis oder einem Geschmacksurteil. Lolićs Wege sind neue Wege und es sind gute Wege, von denen er sich hoffentlich nicht abbringen lässt. Theater sollte in seinem Anspruch immer auch über das Publikum hinausgehen, um es zu bilden. Der Rest wäre bloße Unterhaltung. Da kann es eben schon mal geschehen, dass eine neue, eine ungewohnte Ästhetik nicht sofort greift.
Dem Stück tat es gut, denn es gelang Lolić und den Darstellern, eine höhere Ebene zu erklimmen, als die eines Kriminalstückes, bei dem der Reflex des Betrachters immer auf die gleiche Weise stattfindet. Es war an diesem Abend nicht mehr der Kriminelle Roberto Zucco im Focus der Betrachtung, sondern die dunkle Seite des Menschen. Damit war auch der Betrachter angesprochen, denn in jedem steckt ein potenzieller Zucco.
Der mit 41 Jahren an Aids verstorben Bernard Marie Koltés war kein Optimist in Bezug auf seine Mitbürger. Der immense Erfolg seiner Stücke war und ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er keinen Kotau vor der Krönung der Schöpfung vollführt. Damit war er in jedem Fall auf der Seite der Wahrheit (oder zumindest einem Teil davon) und Regisseur Miloš Lolić und seine Mitstreiter waren es auch. Gratulation.
Wolf Banitzki
Roberto Zucco
von Bernard-Marie Koltés
Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Sohel Altan G., Johannes Meier, Justin Mühlenhardt, Oliver Möller, Leon Pfannenmüller, Pascal Riedel, Barbara Romaner, Lenja Schultze, Xenia Tiling, Mara Widmann, Helmut Stange, Constanze Wächter Regie/Bühne/Kostüm: Miloš Lolić |