3000 Euro

Volkstheater 3000 Euro von Thomas Melle


 

 

Nur Fragen – keine Antworten

Als Zuschauer fühlte man sich nicht unbedingt behaglich im Bühnenbild von Nikolaus Frinke, denn man saß einer den ganzen Raum durchziehenden Spiegelwand gegenüber und war gezwungen sich selbst wahrzunehmen und zu betrachten. Gespielt wurde über weite Strecken im Publikum, was via Spiegel zu verfolgen war. Das meinte, die Geschichte von Anton, der wegen 3000 € Schulden aus der Lebensbahn geraten war, und Denise, alleinerziehende Mutter ohne Mittel und mit vielen Sehnsüchten, geschieht und geschah mitten unter uns, in der Mitte der Gesellschaft. Thomas Melle, der aus seinem Roman eigens für das Volkstheater eine Stückfassung erstellt hatte, thematisierte Armut. Der Betrag von 3000 €, das durchschnittliche Monatseinkommen pro Kopf in Deutschland, war für Anton, der gerade sein Studium beendet und es ein paar Wochen richtig hatte krachen lassen, zur Falle geworden. Die Deutsche Bank, für die 300 Mio. € einmal Peanuts waren, hatte für diesen vergleichsweise nichtigen Betrag den Rechtsweg beschritten. Obgleich sich Freunde, Bekannte und auch Beamte um Anton bemühten, machte dieser keinerlei Anstalten, einen rechtskonformen Weg zu gehen. Er machte „zu“ und ließ sich den Fluss des Lebens hinuntertreiben. Denise schob tagaus, tagein Waren über den Scanner einer Supermarktkasse, erfüllt von Sehnsüchten, deren Inhalt Wohlstand und eine erfüllte Beziehung waren, und geplagt von lähmenden Ängsten, erkannt zu werden, denn sie hatte, um sich aus ihrer finanziellen Misere zu befreien, Pornofilme gedreht. Und da ihr Frust keine andere Projektionsmöglichkeit fand, entlud er sich auf dem noch unschuldigen Haupt ihrer Tochter Linda.

Als sie sich im Supermarkt zum ersten Mal begegneten, registrierten beide eine starke Anziehung. Schüchterne Versuche der Annäherung folgten, doch bald schon stellte sich das ungute Gefühl ein, dass die Beziehung an den äußeren Umständen nur scheitern konnte. So ging jeder seinen Weg der Erniedrigung und der unerfüllten Wünsche.

Thomas Melles Text war episch breit angelegt, erzählte viel von der Geschichte und ihren Protagonisten, und ließ nur begrenzten Raum für dramatisches Spiel. Das war ein vornehmlicher Grund dafür, warum sich die Geschichte ebenso lang anfühlte, wie sie auch war: zwei Stunden. Allerdings zeichnete sich der Text durch einen tiefen, glaubhaft festgehaltenen Wahrheitsgehalt aus, der neben Witz noch eine weitere Qualität besaß: nämlich anrührende Poesie. Melle scheint das Leben zu kennen und er kann überzeugend darüber sprechen. Zumindest taten es die Darsteller. Oliver Möllers Anton war ein verbitterter junger Mann, der kompromisslos gegen die Welt seinen eigenen Niedergang betrieb. Seine Selbstbehauptung erhob ihn über die Zustände und ließ ihn zu einem Outlaw werden, der immer unnahbarer und unantastbarer wurde. Er erweckte den Eindruck, dass die Vorgänge um ihn und seinen Fall nichts mit ihm zu tun hätten - „The Big Lebowski“, wenn auch nur im Westentaschenformat und nur halb so cool. Aber schließlich sind wir nicht in Amerika. In Deutschland nimmt man das Thema Armut noch mit dem naturgemäßen Ernst und verströmt Betroffenheit. Vor allem bleiben wir beim Thema politisch korrekt. Luise Kinners Denise war sichtlich sensibler gestaltet. Während Möller aggressiv und voller Wucht gegenhielt, zermarterte sich Kinners Denise, was ihrer lausigen Lebensqualität den finalen Stoß versetzte. Katastrophen und Erniedrigungen reihten sich wie Perlen auf einer Schnur: die schnelle Nummer mit dem verklemmten Angestellten, die Sauftour mit dem ewig saufenden Vater, die Erpressungen des Pornoproduzenten, die aussichtslose Suche nach einem echten Partner, die „missratene“ Tochter, die bei den medizinischen Tests versagte und wider Erwartung funktionierte, was die Unterstützung gefährdete und schlussendlich die Entdeckung und Bloßstellung als Pornodarstellerin „Nadine“ durch zwei Bauarbeitern im Supermarkt  – Lichtblicke gab es keine.

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Pascal Fligg, Mara Widmann, Oliver Möller

© Gabriela Neeb

 

Die sehenswert spielerischen Dimensionen erreichte die Inszenierung in den Dialogen der Protagonisten mit Mara Widmann und Pascal Fligg, die beeindruckend komödiantisch die Parts von Freunden, Bekannten, zufälligen Begegnungen oder Beamten übernahmen und dabei enorm facetten- und einfallstreich sowohl gestisch-mimisch als auch stimmlich agierten.

Die Inszenierung von Brit Bartkowiak war tadellos, überzeugte durch ein wunderbares Grundkonzept, viele szenische Lösungen und durch gute Führung der Darsteller. Was kann man mehr verlangen. Die Musik von Joe Masi sicherte die ästhetische Ebene perfekt wie ein Seil einen Kletternden. Dennoch gibt es einen nicht unerheblichen Einwand gegen das Werk und der zielt auf den Schluss. Thomas Melle hat mit seinem Text eine verbindliche Sicht auf das Thema Armut geschaffen, die sich allemal als Diskussionsangebot eignen würde. Doch davor war ein märchenhafter Schluss, in dem Denise mit Tochter Linda in New York sitzen und Pizza essen. Plötzlich und unerwartet nimmt  Denise einen Mann wahr, von dem sie glaubt, es sei Anton. In diesem Augenblick fällt eine letzte Last von ihr ab, nämlich Anton nicht mit ihrem Honorar für die Pornofilme geholfen, sondern eine Reise gemacht zu haben, die sie sich schon immer gewünscht hat. Dieser Schluss war kitschig und er setzte einen unweigerlichen Punkt unter das Thema. Es erinnerte fatalerweise an De Sicas neorealistischen Film „Das Wunder von Mailand“ in dem die Obdachlosen, nachdem man ihnen auch noch ihre Favela genommen hatte, mit Fahrrädern unter kitschigen Klängen in den Himmel hinauf fuhren.

Schade. Schade auch, dass das bildreiche und wortgewandte Stück die entscheidenden Fragen nicht gestellt hat und damit auch keine gesellschaftskritische Dimension bekam. Thomas Melle ist sehr sensibel mit dem Thema umgegangen. Befragt, warum er das Wort „Unterschicht“ als diskriminierend betrachte, gab er zu verstehen, dass er sich auch solcher „Euphemismen wie ‚sozial benachteiligter Mitbürger‘“ nicht bedienen würde. Das ist sehr ehrenhaft. Aber macht es Sinn, ein so großes Thema in die Hand zu nehmen und zur Unterhaltung des Publikums damit zu jonglieren? Fragen sind gut – Antworten wären besser!

Wolf Banitzki

 


3000 Euro

von Thomas Melle

Oliver Möller, Luise Kinner, Mara Widmann, Pascal Fligg, Greta Hummel/Martha de Righi

Regie: Brit Bartkowiak

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