Schuld und Sühne

Volkstheater Schuld und Sühne nach dem Roman von Fjodor Dostojewski


 

 

Der Weg in die Radikalität

Der junge Rodion Romanowitsch Raskolnikow, bis vor kurzem noch Jurastudent, hatte einen Artikel verfasst, in dem er die Ansicht vertrat, dass es gewöhnliche und ungewöhnliche Menschen gab. Letzteren sprach er das Recht (und bis zu einem gewissen Grad auch die Pflicht) zu, gegen die Gesetze verstoßen zu dürfen, um ihre Ideen umsetzen zu können. Er selbst, inzwischen völlig mittellos, hält sich für einen ungewöhnlichen Menschen. Um sich selbst von seinem Berufensein zu überzeugen, tötet er die skrupellose und von niederen Beweggründen getriebene Pfandleiherin Aljona Iwanowna. Unglücklicherweise wird ihre Schwester Lisaweta Iwanowna, ein harmloses und unscheinbares Geschöpf, Zeugin des Mordes. Raskolnikow entscheidet sich, eher unfreiwillig, auch sie zu töten. Die Tat paralysiert den Täter, denn fortan muss er sich selbst und der Gesellschaft gegenüber verantworten. Der (Selbst-) Erkenntnisprozess gleicht einem fiebrigen Wahn, wobei Raskolnikow an seinen eigenen Anschauungen scheitert. Der Untersuchungsrichter Porfirij hat, dank einiger Indizien und aufgrund seiner hervorragenden Beobachtungsgabe schnell einen Verdacht gegen Raskolnikow; allerdings hat er keinerlei Beweise. Und so entspinnt sich zwischen den Beiden ein subtiles Katz-und-Maus-Spiel auf Weltanschaulich-ethischer Ebene.

Christian Stückl, der eine eigene, höchst bemerkenswerte Spielfassung geschrieben hat, brachte das epochale Drama nun auf die Bühne des Volkstheaters. Im düsteren Grau des Petersburger Elends um 1860, in dieser Zeit hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft in Russland auf, vermittelte Stückl ein Destillat des vierhundertfünfzigseitigen Romans, in dem er die Frage nach der Wertigkeit menschlichen Lebens verhandelt. Überall auf der neoliberalen Welt brechen zurzeit Konflikte auf, die in Gewalt eskalieren. Doch Stückl fragt nicht danach, ob Menschen das Recht haben, für eine „bessere“ Welt auch töten zu dürfen. Mehr als einmal zitiert er die Rolle Napoleons, einer der großen Schlächter der Geschichte, ebenso wie der Prophet Mohamed oder römische Cäsaren. Die Fragestellung nach Wert und Unwert des Lebens, wie sie haarfein im Dostojewskischen Werk erörtert wird, ist sicherlich spannend, doch die Frage, wie Raskolnikow zu seiner Tat, die eines radikalisierten „Moralmenschen“, kommen konnte, ist allemal spannender. Es war ein theoretischer Diskurs, der nur bedingt, doch hinreichend genug auf Ästhetik und schauspielerische Höhenflüge baute. Stefan Hageneiers fachwerkartiges Bühnenbild mit einigen wenigen gestaltlosen Möbeln lenkt dabei nicht ab, war lediglich Ausdruck von materieller Bedürfnislosigkeit. Die wird hier nicht als Elend, sondern als Ausgangspunkt begriffen für Ideen, die nicht auf Besitz basieren.

Mehrmals warf Raskolnikow, mal bissig und schneidend, mal tief in sich versunken und angewidert von Paul Behrens gespielt, seinem Freund Rasumichin vor, die Ideen der Sozialisten zu Unrecht zu verschmähen. Zwar teile er die Auffassung nicht, der Mensch sei ausschließlich Produkt seiner Umwelt, auf seinen eigenen (Gestaltungs-) Willen möchte er keinesfalls verzichten, doch treffe diese Determiniertheit durchaus in hohem Grade zu. Raskolnikow ist ein vom Leben enttäuschter und desillusionierter Mensch, der gegen die Gesellschaft zu opponieren beginnt und sich zunehmend dieser Gesellschaft verweigert. Sein Nihilismus steigert sich bis zu dem Punkt, an dem er zur mörderischen Tat fähig wird. Aus Verdruss über die Gesellschaft und der Abkehr von ihr, erhob er sich über sie und über ihre Moral, die ihm längst als widersinnig und verderbt erschien. So funktioniert Radikalisierung. Die Pervertierung des Geistes ist also nicht Produkt einer Ideologie oder einer Religion, sondern Resultat gesellschaftlicher Sinnlosigkeit und Leere. Raskolnikow entging letztlich dem „Gewissenswurm“ nicht, den ihm der Untersuchungsrichter Porfirij, liebenswert-schrullig und nervig-penetrant von Pascal Fligg gegeben, immer wieder ins Hirn pflanzte, weder im Roman, noch in Stückls Inszenierung.

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Jakob Geßner, Paul Behren, Carolin Hartmann

© Gabriela Neeb

 

Jakob Geßners Rassumichin radikalisierte sich nicht. Der realitätsnahe Student wusste ebenso um die Schwächen der Gesellschaft und ihrer Institutionen, rang aber verzweifelt um den Freund, der sich ihm und der Gesellschaft in Wort und Tat, hier Tatenlosigkeit, zunehmend entzog. Der Student der Medizin Sossimow, Moritz Kienemanns brachte ein wenig Salonkomödie in den ernsten und ernsthaften Diskurs, konterkarierte die Qualen der um Wahrheit und Anschauungen ringenden Homo Faber mit seiner bourgeoisen Oberflächlichkeit. Carolin Hartmann gab die Sonja, eine durch Elend in der Familie, die den Ernährer durch einen Unfall verloren hatte, zur Prostitution gezwungene Frau. Sie gab eine zur Liebe fähige, in ihrer Existenz zu bemitleidende Kreatur, die sich am Ende als Rettung für Raskolnikow entpuppen sollte. Der von ihr verkörperten ehrlichen menschlichen Regung konnte vertraut werden. Sie ist in der Bedrängnis die letzte Bastion die gebaut werden kann.

Die zweite weibliche Figur war Dunja, Raskolnikows Schwester, gespielt von Magdalena Wiedenhofer. Ihr Part beschränkte sich im Wesentlichen darauf, sich von Luschin, einem Rechtsanwalt, widerwärtig glatt und geschniegelt verkörpert von Oliver Möller, heiraten zu lassen, um dem Elend zu entgehen. Diese Figur nutzte Christian Stückl, um den Urvater der Ökonomie, Adam Smith (1723-1790) zu Wort kommen zu lassen. Der plädierte nämlich dafür, dass jeder ausschließlich seinem eigenen Egoismus frönen sollte, denn der führe in den persönlichen Wohlstand und dieser wiederum bereichere damit den Wohlstand der Gesellschaft. Luschins Statement, über das Ziel und den Weg seines Lebens, ungeachtet der Kollateralschäden und der zersetzenden Tendenzen in und für die Gesellschaft, führte die Zuschauer ins Heute. Videoprojektionen bebilderten dieses Heute schlaglichtartig. Stückl entlarvte damit einen wesentlichen Aspekt der heutigen Gesellschaftskrise: Geld ist keine Idee und Egoismus schafft keine Gesellschaft, vielmehr zerstört sie dieselbe. Und die Radikalisierung resultiert aus der Bindungslosigkeit des Individuums, dem in der Gesellschaft kein Wert mehr zugestanden bekommt, außer dem des materiellen Besitzes. Diese Wahrheit ist einfach und richtig und der Hinweis, sich doch noch einmal kritisch  mit den Ideen der Sozialisten zu beschäftigen, um das gesellschaftliche Leben wieder auf den Menschen zurückzuführen und nicht auf die Ökonomie, erscheint sinnvoll.

Stückls Inszenierung war diskursiv und dabei nicht ideologisch, sie war politisch aber kein Polittheater und sie war durchaus anstrengend, obgleich die Ästhetik dezent in den Hintergrund getreten war, um den Argumenten Raum zu geben. Sie war dennoch nicht langatmig oder öde, weil gewichtige Inhalte transportiert wurden. Es war gutes Theater mit einer brandaktuellen Botschaft.

 

Wolf Banitzki

 


Schuld und Sühne

von Christian Stückl nach dem Roman von Fjodor Dostojewski

Paul Behren, Pascal Fligg, Jakob Geßner, Carolin Hartmann, Moritz Kienemann, Oliver Möller, Magdalena Wiedenhofer

Regie: Christian Stückl