Volkstheater Sie nannten ihn Tico von Nora Abdel-Maksoud
Powertheater
„Wenn man friert, zündet man sich nicht gegenseitig die Hütten an. Man stürmt die Paläste.“ Damit zitiert Nora Abdel-Maksoud einen ganz Großen der deutschen Dramatik. Georg Büchner stellte seiner 1834 erschienen Kampfschrift „Der hessische Landbote“ die Sätze „Frieden den Hütten! Krieg den Palästen!“ voran. Nun ist „Sie nannten ihn Tico“ keine Kampfschrift, sondern eher ein sozialromantisches Roadmovie ohne Happy end, doch die Parallelen sind unübersehbar. Büchner durchleuchtete das Staatswesen im Großherzogtum Hessen und entlarvte es als einen ausbeuterischen Moloch, der aus dem 700 000 Menschen zählenden Hessenvolk jährlich gut 6,3 Mio Gulden an Steuern und Abgaben herauspresste und damit unermessliches Elend generierte. Büchner nannte das den „Blutzehnten“. Autorin/Regisseurin Nora Abdel-Maksoud ging dramaturgisch sehr trickreich zu Werke und erschuf eine Figur namens Lefty. Sein großer Traum ist es, als Gameshowmaster im Fernsehen aufzutreten. Um sich für diesen Job fit zu machen, studiert er die Enzyklopädie. Im Verlauf des Stücks streut er dieses Wissen immer wieder ein und fördert damit Wahrheiten zu Tage, die eine Menge aussagen über die deutsche Gesellschaft. So stellt er beispielsweise fest, dass etwa 11 % der Bevölkerung eine private Krankenversicherung haben, der Anteil der privat Krankenversicherten im Bundestag, dem Repräsentantenhaus, liegt allerdings über 50 %.
Lefty ist ein liebenswerter Loser mit Neigung zur Hypochondrie. Sein väterlicher Begleiter ist der Ex-Sozialarbeiter und inzwischen selbst drogensüchtige Pancho. Beide kommen aus einem Kaff namens Moers, wo Pancho, bevor seine Stelle als Drogenberater gestrichen wurde, Lefty betreut hat. Im Land wurde ein Gesetzespaket verabschiedet, das das „Große Fasten“ eingeläutet hat, ein Programm, in dem sich der „kranke Mann“ gesund hungern soll. Zugleich finden Kürzungen im Sozialwesen statt und das Freihandelsabkommen wird verabschiedet. Seither geht Angst um im Land, Angst vor Abstieg und vor Zu-kurz-kommen, und die gebiert Wutbürger, Abendlandretter, Nationalisten, seltsame Sicherheitsapparate, jubelnde Milliardäre und rasende Mediennerds.
Tatsächlich hat Nora Abdel-Maksoud zu jedem der benannten Themen beweiskräftiges Material. Vor allem aber hat sie einige sympathische Rebellen anzubieten. Zum Beispiel die Musiker der Band „Pillepalle und die Ötterpötter“, die kreuz und quer durchs Land ziehen und Naziglatzen verkloppen. Sie werden lautstark und unter die Haut gehend von den Rock'n'Rollern Enik, Lorenz Blaumer und Fabian Füss gegeben. Und es gibt einen echten Hoffnungsträger: Tico. Tico ist Leftys Vater und Revolutionär, der in den Untergrund nach Andalusien ging. Er kann sich seinem Sohn nicht zu erkennen geben, denn der selbstlose Robin Hood wird von der „Gemischtwarenhandels-Dynastie“ und ihren Schergen gnadenlos gejagt. Diese Geschichte erzählt Pancho Lefty, um ihn vor der Hoffnungslosigkeit der Zeit zu bewahren. Eines Tages würde Tico seinen Sohn ganz gewiss finden und dann würden sie den Kampf gegen die Übel der Welt gemeinsam führen. Soviel zum romantischen Part in der Geschichte. Zuvor aber finden Pancho und Lefty einen dunkelhaarigen Säugling in der Mülltonne des Moerser Krankenhauses. Sie nehmen sich des Kleinen an und sehen sich augenblicklich mit einem höchst seltsamen Polizistenduo konfrontiert. Es folgt eine wilde Flucht in Richtung Andalusien …
Luise Kinner, Eva Bay, Mehmet Sözer © Daniel Delang |
Die Bühne von Katharina Faltner war ein drehbarer funktionaler Turm, der hauptsächlich aus Lautsprecherboxen zu bestehen schien. Er stellte einen Laden mit der Aufschrift „Wurstenbrot“, rückseitig ein Gameshowstudio vor. Es war zudem ein Gang/Balkon integriert, auf dem drei Personen, achtzehnarmig demonstrieren konnten. Im Innern des Gebäudes fanden vermutlich auch viele der zahllosen Umzüge statt. Wahlplakate mit unglaublich idiotischen Slogans wie „Flut Schwamm Schwemme“ klebten an den Wänden.
Es ist eine chaotische Geschichte, deren Logik nicht unbedingt hinterfragt werden sollte. Man sollte vorab auch nicht unbedingt die Zusammenfassung im Programmheft lesen, es könnte Panik aufkommen. Tatsächlich kam sie auf der Bühne verständlicher und wesentlich kurzweiliger über die Rampe. Das lag sowohl an der fabelhaften musikalischen Begleitung, als auch an der Verve, mit der sich die Schauspieler in das chaotische Getümmel der Geschichte mit ihren scheinbar unzählbaren Figuren stürzten. Die fünf Schauspieler gestalteten annähernd zwanzig Figuren, die drei Musiker nicht eingerechnet, die ebenfalls viel Volk gaben. Unbedingt zu preisen ist die Sprache des Stücks, die eindeutig eine Kunstsprache ist, zugleich aber deutliche soziale Determinanten aufweist. Es wurde weder mit Wortwitz noch mit Sprachakrobatik gespart.
Regisseurin Nora Abdel-Maksoud hatte von der ersten Sekunde bis zum Vorhang alles im Griff. Nicht nur, dass sie einen reibungslosen Ablauf hinbekam, beinahe jede der Figuren waren eine gestalterische Meisterleistung. Wie immer, wenn Ensembleleistung gefordert war, liefen die spielwütigen Volkstheater-Schauspieler zu großer Form auf. Hinzu kam, dass Nora Abdel-Maksoud die Figuren ästhetisch überhöht und satirisch aufgeladen hatte. Also ließ man es richtig krachen. Vergleichsweise realistisch waren dabei die Figuren Lefty und Pancho angelegt. Ein echter Blickfang war die unglaublich alberne Frisur Mehmet Sözers, Mireille Mathieu in blond. Sözer verlieh seinem Lefty eine explosive Agilität. Trotz der enormen Körperlichkeit blieb immer auch Raum für Nachdenklichkeit oder, wenn er sich eine Krankheit einredete, Weinerlichkeit. Echte Helden sehen halt anders aus. Für die Rolle des Panchos hatte die Regisseurin Eva Bay mitgebracht. Sie gab einen sensiblen, beseelten, aber „abgefuckten“ Junkie, dem man seine väterliche Liebe zu Lefty ebenso abnahm, wie seine ehrliche Sorge um das Neugeborene, das einen Gitarrenkasten als Wohnstatt bekam. Es war übrigens nicht irgendein Kasten, sondern der einer Gibson Les Paul, einer Königin unter den E-Gitarren.
Faszinierend anzuschauen waren die Figuren der Luise Kinner als übervorteilte Gameshowspielerin, als Journalistin unter Hochspannung oder als rumpelstielzchenhüpfende Gallionsfigur der „Neuen Rechten“. Fast möchte man meinen, den Rest erledigten Moritz Kienemann und Max Wagner, und dabei liegt man gar nicht so falsch. Allein, alle Rollen aufzuzählen, würde wahrlich zu weit führen. Sie meisterten sie allesamt mit Bravour und außerordentlicher künstlerischer Eigenwilligkeit. Die Inszenierung war ein Heidenspaß, bei der nie etwas außer Kontrolle geriet, obwohl alles außer Kontrolle war. Es war hochpolitisches Theater, aber es blieb stets Theater und es entwickelte sich nie zur vordergründigen Agitation. Eine Menge Probleme kamen zur Sprache und hinter allem stand eine respektable Weltsicht und Haltung. Ob für diese einzig die Regisseurin verantwortlich zeichnete, oder ob es kollektiver Geist war, sei dahingestellt. Es war jedenfalls echtes Powertheater und es ging ab, wie ´ne Tüte Mücken.
Wolf Banitzki
Sie nannten ihn Tico
von Nora Abdel-Maksoud
Eva Bay, Moritz Kienemann, Luise Kinner, Mehmet Sözer, Max Wagner und die Musiker Enik Lorenz Blaumer, Fabian Füss Regie: Nora Abdel-Maksoud |