Volkstheater Unschuld von Dea Loher
Kein Streichelzoo
„Unschuld“ von Dea Loher ist nach „ Caligula“ von Albert Camus Lilja Rupprechts zweite Arbeit am Münchner Volkstheater und es verdichtet sich der Verdacht, dass sie eine Affinität zum Existenzialismus hat (,ohne ihr damit Existenzialismus zu unterstellen). Immerhin ist es bemerkenswert, dass sich im Programmheft ein Text von Dea Loher findet, in dem diese wunderbare Dramatikerin über Sinn und Wirkung, zumeist ergibt sich der Sinn aus einer Wirkung, nachdenkt und dabei wenig optimistisch urteilt. Damit spiegelt sie durchaus Positionen des radikalen Franzosen. Sie zitiert, um das einmal zu veranschaulichen, im Programmheft den Lyriker W.H. Auden zum Tod des Nobelpreisträgers W.B. Yeats: „Irland hat seinen Wahnsinn und sein Wetter noch / Denn Dichtung bewirkt nichts“. Programmhefte spiegeln nicht selten ungenügend wider, was sie eigentlich dramaturgisch begleiten sollten, nämlich das Drama auf der Bühne. In diesem Fall geschieht das gleichfalls, denn das Programmheft kreist in seinen Beiträgen immer wieder um das Thema Flüchtlinge. Auf der Bühne war aber wesentlich mehr zu erleben, nämlich eine erodierende Gesellschaft, in der sich auch Flüchtlinge zurechtfinden mussten und dabei verzweifelten.
Diese Flüchtlinge heißen Fadoul und Elisio und sie halten sich illegal im Land auf. Immerhin haben sie im Hafen Arbeit. Beide werden Zeugen, wie sich eine junge Frau ertränkt. Der erste Impuls, die Frau zu retten, wird schnell ausgebremst von der Angst, als „Illegale“ ausgemacht und vielleicht abgeschoben zu werden. Diese Szene ist die vorweggenommene Selbsttötung Rosas, die in ihrer kinderlosen Beziehung zu Franz verzweifelt, weil dieser, anstatt sein Medizinstudium zu beenden, Zuflucht in einer ihn befriedigenden Nekrophilie sucht. Fast möchte man meinen, seit er die Menschen kennt, liebt er die Toten. Zu diesen desillusionierenden Menschen gehört auch Frau Zucker, zuckerkrank, fußamputiert und die Tochter Rosa hemmungslos vereinnahmend. Sie breitet ihren Lebensfrust wie einen Säurefilm über die Beziehung ihrer Tochter aus. Einst Revolutionärin und Kommunistin, die die Menschen von „ihren Tischtennisvereinen“ befreien wollte, klagt resignierend: „Jetzt träume ich von einer Zigarette zur anderen. Aber was hinterlasst ihr. Außer Anschmiegsamkeit.“ Anschmiegsamkeit ist ihre Stärke nicht.
Ebenso wenig wie die verbitterte Philosophin Ella, die alle von ihr geschriebenen Bücher verbrannt hat, damit es andere, die es mit Sicherheit tun werden, nicht tun können. Sie hat die Waffen gestreckt vor den Naturwissenschaften, die zwar keine Antworten auf die Fragen, die sie nicht stellen, geben, aber dafür für alles stichhaltige Beweise haben. Die Geisteswissenschaften haben sich erledigt und sind verstummt. Vielleicht eines der bittersten Bilder im Reigen der absurden Konflikte, die von vielem künden, keinesfalls aber von der Gesundheit der Gesellschaft. Einer steht immerhin wie ein Fels in der alles zermürbenden Brandung der Moderne: Ellas Mann Helmut, der seit Jahrzehnten tagaus, tagein seinem stillen Handwerk als Juwelier nachgeht und echte Dinge herstellt. Ganz im Gegensatz dazu lebt Frau Habersatt von Illusionen und Lügen. Sie, die einmal ein totes Kind zur Welt bringen musste, schlüpft in die Identitäten von Müttern, deren Kinder Terroristen oder Gewaltverbrecher waren, um sich dann den Hinterbliebenen Vergebung heischend aufzudrängen. Es funktioniert. Noch absurder mutet die Figur der Absolut an, blindes Kind blinder Eltern. Sie tanzt in einer Hafenbar nackt und lässt sich von Männer anschauen. Fadoul, dem aus einer unerfindlichen Quelle Geld zugefallen ist, bezahlt ihr eine Augenoperation, die allerdings ohne Erfolg bleibt. So hatte sich nichts entwickelt, einige Menschen waren zu Tode gekommen und die dunklen Wolken über der Szenerie erschienen noch dunkler.
Jakob Geßner, Magdalena Wiedenhofer, Ursula Burkhart © Gabriela Neeb |
Anne Ehrlichs Bühnenbild stellte einen U-Bahnhof vor, gekachelt, kalt und unpersönlich. Zwei Werbeflächen wurden für Videoprojektionen (Video: Moritz Grewenig) oder, geöffnet, auch als Schaukastenbühnen genutzt. Durchfahrende U-Bahnen beendeten die Szenen, insgesamt neunzehn an der Zahl, und wischten die Figuren wie von einer Tafel. In der Eingangsszene agierten Leon Pfannenmüller als sensibel vibrierender Elisio und Jean-Luc Bubert als erstaunlich selbstbewusster Fadoul an der Bühnenrampe. Das Meer rauschte im Hintergrund als Videoprojektion. Dea Loher ließ in ihrem Text die Komik nie gänzlich außen vor und so beugte sich Fadoul in seinem Drang, die Ertrinkende zu retten, letztlich der Einsicht, gar nicht schwimmen zu können. Magdalena Wiedenhofer gab eine schmerzvoll-sehnsüchtige Rosa, die an ihrem unerfüllten Kinderwunsch und der Jenseitsorientierung ihres Ehemannes Franz zerbrach. Jakob Geßners Franz hatte die für ihn schmerzliche, weil auf Leistung und Verantwortung drängende Realität längst ausgeblendet und war ihr entrückt. Mara Widmanns Frau Habersatt indes strotzte vor Selbstbewusstsein und Tatendrang, mit dem sie sich in das Leben anderer drängte, um Vergebung zu erlangen, die ihr gar nicht zustand. Selbst nachdem sie von der Justiz gemaßregelt worden war, gab sie ihren Anspruch keineswegs auf, denn sie betrachtete ihr Tun durchaus als soziale Leistung. Alexander Duda, Vater einer ermordeten Tochter, donnerte die emotionale Bittstellerin voller Empörung in Grund und Boden, um dann urplötzlich in sich zusammen zu fallen und zu gestehen, dass es das gewesen wäre, was er der (vermeintlichen) Mutter des Mörders seiner Tochter gern gesagt hätte. Stattdessen aber hat er Tee gekocht, ihre Hand gehalten und ihr das Gästezimmer angeboten. Auch diese Szene war nicht ohne Komik, wenn auch bitterer. Frau Zucker war da von anderem Schrot und Korn. Ursula Maria Burkhart scheute keinen Augenblick vor Destruktion zurück, weder aus natürlicher Rücksichtnahme, noch aus Mitgefühl für ihre Tochter. Ähnlich gewitterschwer haderte Katalin Zsigmondy als alternde Philosophin Ella mit ihren eigenen und dem Schicksal schlechthin. Gänzlich anders Pola Jane O'Mara in der Rolle der Absolut. Sie dachte nicht ernstlich über Zukunft nach, drängte auf den Augenblick und reflektierte mit einem optimistischen Glanz in den weitgeöffneten Augen. Allein, die waren blind und sollten es bleiben.
Lilja Rupprecht schuf eine Inszenierung, die weitestgehend frei war von Optimismus. Mehr noch: Schlimm, wenn es für Optimismus Blindheit braucht. Und dennoch war es keine Beschwörung des Untergangs, sondern eine nüchterne und ernüchternde Bestandsaufnahme von einer Welt, der man getrost Verrücktheit bescheinigen darf. Diese Verrücktheit offenbarte sich in der Reflektion der Realität durch zwei Einwanderer, denen das Verständnis verständlicherweise abging. Einmal mehr gelang es Dea Loher, Stimmungen einzufangen und in eine wunderbar poetische Sprache zu kleiden, wie sie in der Gesellschaft real existieren. Lilja Rupprecht indes gelang eine kongeniale Umsetzung auf der Bühne. Es war kein heiterer Abend und das Lachen blieb gelegentlich im Halse stecken. Es ist nicht unbedingt abonnementfördernd, zu zeigen, dass die Welt kein Streichelzoo ist, aber es ist die Wahrheit.
Wolf Banitzki
Unschuld
von Dea Loher
Leon Pfannenmüller, Jean-Luc Bubert, Pola Jane O'Mara, Mara Widmann, Jakob Geßner, Magdalena Wiedenhofer, Ursula Maria Burkhart, Katalin Zsigmondy, Alexander Duda Regie: Lilja Rupprecht |