Volkstheater  Medea von Euripides


 

Die „Barbaren“ sind immer die anderen, oder?

Stimmen unsichtbarer Frauen und Männer zischelten durch den Raum. Was und über wen sprachen sie? Über Medea, die Fremde, die Kolcherin, die Barbarin, die über gewaltige Kräfte verfügte, mit denen sie dennoch nicht im Stande war, ihren Mann, Jason, zu halten. Es gab nur Griechen und Barbaren und alle die waren Barbaren, die nicht Griechen waren. Für Jason, der, Opfer eine Kabale des Pelias, seinem Onkel, ausgezogen war, um im Land der Kolcher das goldene Fließ zu rauben, das irgendwann mal den Griechen gehörte, hat Medea ihren Bruder getötet und das Vaterland verraten.

Jedes erdenkliche Verbrechen hat die Enkelin von Helios, dem Sonnengott, auf ihr Haupt geladen, um den geliebten Mann zu beschützen. Sie schenkte ihm auf der rastlosen Flucht zwei Kinder und gemeinsam strandeten sie in Korinth, Exilanten ohne nennenswerte Zukunft. Jason ertrug seine Bedeutungslosigkeit nicht und schielte nach Glauke, der Tochter des Königs von Korinth. Die Königswürde rückte nah und näher. Er brauchte nur danach greifen, doch seine Ehefrau, Medea, stand zwischen ihm und dem neuen vermeintlichen Glück. Jason nutzte die Fremdartigkeit Medeas aus, die selbst keinen Fettnapf ausließ, sich unbeliebt zu machen. Angst machte sich breit in Korinth, denn insgeheim ahnte man, wozu diese wilde Kolcherin fähig ist. Die, halb wahnsinnig vor Schmerz, sann auf Rache und die konnte gründlicher kaum sein. Sie tötete Glauke, deren Vater König Kreon, und zuletzt noch ihre eigenen beiden Kinder, um den Verräter und Ehemann Jason auszulöschen.

Regisseur Abdullah Kenan Karaca ließ seine Inszenierung des antiken Dramas von Euripides, das 431 v.Chr. uraufgeführt und im Dionysos-Theater zu Athen mit dem dritten Preis bedacht wurde, mit der Selbstbezichtigung Medeas beginnen, dass sie eine Löwin sei und kein Mensch. Der Mord an den Kindern war vollzogen und jedermann war mit dem Unfassbaren konfrontiert. Nach dieser prologischen Szene wurde das Drama chronologisch gespielt. Bühnenbildner Vincent Mesnaritsch hatte die Geschichte in einen Verhörraum gepfercht, aus dem es für Medea kein Entrinnen mehr gab. Außer Jason durfte niemand diesen Raum betreten und kommuniziert wurde nicht auf Augenhöhe oder wenn doch, dann durch eine Glasscheibe. Medea stand quasi unter Quarantäne, eingesperrt und unter Beobachtung. Das Bild ist heute allgegenwertig angesichts der Massen von Fremden, die ein Exil suchen, in dem sie überleben können. Die Aktualität war bedrückend, denn die Ängste, die heute in der Bevölkerung umgehen, sind dieselben. Wozu sind diese „Barbaren“ fähig. Werden sie töten? Werden sie uns unseren Lebensraum rauben? Sehr schnell wurde klar, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, das Euripides vor 2500 Jahren schon in aller Deutlichkeit beschrieb.

  Medea  
 

Julia Richter

© Arno Declair

 

Julia Richters Medea glich tatsächlich einem gefangenen Raubtier, gekrümmt vom Schmerz, den ihr der Ehemann zufügte und der Ohnmacht, die Schmach und den Hohn der Korinther über sich ergehen lassen zu müssen. Ihr Zorn war nicht kontrollierbar und richtete sich tätlich gegen die wenigen Einrichtungsgegenstände und die Wände ihres Gefängnisses. Richters Medea war fraglos eindringlich und verstörend, allerdings mangelte es bisweilen an Momenten der überlegenen und kalkulierenden Klugheit, eine überragende Eigenschaft, die auch im Stück immer wieder gelobt wurde. Diese Medea ließ es an der Perfidität eines Racheengels mangeln, die der Figur unbedingt eigen ist. Nur mit Hass und Zorn lässt sich ihre Handlung nicht erklären. Nur über ihre Intelligenz und ihren Willen war sie allen anderen Figuren deutlich überlegen.

Jason, der Mann mit den schneeweißen Zähnen und Schuhen, grandios von Moritz Kienemann gegeben, wäre gegen Medea eine lächerliche Figur gewesen, wenn sich die von Julia Richter gespielte Medea nicht durch die Unkontrolliertheit ihrer Emotionen kleiner gemacht hätte, als sie in Wirklichkeit war. Selbst Kreon, von Oliver Möller als ein geföhnter Politpragmatiker gespielt, hatte nicht annähernd das Format Medeas. Ebenso Ägeus, der König von Athen, der Medea nach ihrer Flucht Asyl in Athen gewährte. Er war ein Hampelmann, verglichen mit Medea, die übrigens in Athen versuchte, um Zugriff auf den Thron zu erlangen, Ägeus´ Sohn Theseus, der den Minotauros tötete, zu ermorden. Leon Pfannenmüller gestaltete seine Rolle durchaus in diesem Sinn. Überhaupt gaben die Männer ziemlich lächerliche Figuren ab. In der Literaturgeschichte gilt dieses Thema auch als ein Wendepunkt weg vom Matriarchat hin zum Patriarchat.

Tatsächlich glänzten die Frauen durch innere Stärke. Luise Kinner stand Medea als deren Amme Gora immer loyal zur Seite. Selbst als Medea die Kinder getötet hatte, war es vornehmlich das blanke Entsetzen, das sie die Augen niederschlagen ließ. Mara Widmann kommentierte als Chor den Fortgang der Geschichte objektiv, aber nie teilnahms- oder fühllos. Zwei Schlüsselsätze im Drama von Euripides versuchen zu erklären, warum die Geschichte so passiert, wie sie passiert: „Das Menschenleben ist ein Schattenspiel.“ Und: „Denn Glück ist keinem Sterblichen beschieden.“ Der Verweis auf die Götter verpflanzte die Geschichte in die Mythologie und darin ist nicht vorgesehen, dass es ein glückliches Ende gibt. Den Zeitgenossen von Euripides blieb letztlich nur der Trost, dass der menschliche Geist ein Teil des „pneuma“, des göttlichen Hauches ist und nach dem Tode, frei von allen Leiden, weiterexistiert. Glück im Jenseits. Die katholische Kirche hält immer noch daran fest. Das Theater nicht und die Inszenierung von Abdullah Kenan Karaca erst recht nicht. Schon das Bühnenbild rückte die Geschichte ins Heute; das Thema ist allemal hochaktuell. Und wir sind uns darüber im Klaren, dass kein Gott uns aus dem Dilemma befreien wird, dem Unglück, das wir übrigens selbst verursachen, entgegenzutreten.

Die Inszenierung gibt uns immerhin einen deutlichen Hinweis. Wenn wir die Fremden nicht als Brüder und Schwestern ansehen, sie isolieren, sie diskriminieren und verhöhnen, werden sie irgendwann um sich schlagen, weil ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt. Der Glaube, die „Barbaren“ seien immer die anderen, ist wenig hilfreich. Erst recht nicht, weil wir und niemand anderes sie dazu macht. Das ist barbarisch.

Wolf Banitzki


Medea

von Euripides

Julia Richter, Luise Kinner, Mara Widmann, Oliver Möller, Moritz Kienemann, Leon Pfannenmüller

Regie: Abdullah Kenan Karaca