Volkstheater  Die Dämonen von Fjodor M. Dostojewskij


 

Verführung ist kein Phänomen

Um ein Haar wäre uns Dostojewskij verlustig gegangen, denn die Hähne der Gewehre seines Erschießungskommandos waren bereits gespannt, als die Begnadigung durch den Zaren eintraf. Das war im Jahr 1849. Wessen hatte sich Dostojewskij schuldig gemacht, dass der Staat, hier der Zar, sein Leben forderte? Er war Anhänger der Ideen eines gewissen Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewski, der Mitte der 1840er Jahre den nach ihm benannten Zirkel begründet hatte. Petraschewskis Ideen waren beeinflusst von den französischen Frühsozialisten um Charles Fourier. Im Zirkel herrschte keine homogene Weltanschauung vor, vielmehr war es ein Debattierklub, in dem viele Anschauungen diskutiert wurden. In dem Roman „Die Dämonen“, geschrieben 1870 in Dresden, bekommt man reichliche Kostproben von diesem Weltanschauungspluralismus. In zwei Punkten war man sich im Wesentlichen doch einig: Unerträglich waren den Petraschewzen der zaristische Despotismus und die Leibeigenschaft. Das reichte seinerzeit aus, um sein Leben zu verlieren. Für Dostojewskij war das eine nachhaltige Lehre.

Eine russische Kleinstadt um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Elite, zumeist parasitär lebende Wohlstandsbürger geraten in Aufruhr, denn das Enfant terrible Nikolaj Stawrogin kehrt zurück. Und mit Stawrogin hält der Aufruhr Einzug in der Stadt. Das heißt, eigentlich ist er längst da, wird schnell und effizient organisiert. Das Ergebnis: eine revolutionäre Fünf-Mann-Zelle. Bislang geht es noch um nichts, um eine versteckte Druckmaschine. Doch mit Stawrogin, eine Figur, „von der der Marquis de Sade lernen könnte“, der indes eine Kopie des atheistischen Franzosen zu sein scheint, hält Pjotr Werchowenskij Einzug in der Stadt. Während Stawrogin ein narzisstischer Egoist und Nabob ist, verkörpert Werchowenskij den Typus des Berufsrevolutionärs. Er kennt nur ein Ziel, den Sturz der staatlichen Ordnung und die Anarchie. Er schart eine Gruppe junger Menschen um sich und versucht sie zu soldatischen Revolutionären heranzuziehen. Die Weltanschauungen und Unzufriedenheitspotenziale bilden eine vage Gemengelage und Werchowenskij treibt die Radikalisierung voran, um sie gefügig zu machen. Sein Plan ist simpel: „Überreden Sie vier Mitglieder einer Gruppe, den fünften um die Ecke zu bringen, unter dem Vorwand, dieser könnte sie denunzieren, und sogleich werden Sie alle durch das vergossene Blut wie durch einen einzigen Knoten aneinanderfesseln.“ Das Rekrutieren der Soldaten ist ein Leichtes für den eloquenten und aggressiv agitierenden Werchowenskij, doch er braucht eine charismatische Führerfigur. Dabei hat er Stawrogin im Auge. Doch der lässt sich von dem nihilistischen Demagogen nicht einfangen. Stawrogin ist keiner, ganz wie de Sade, der irgendwo „dazu gehören möchte“.

Langsam schaukeln sich die Aggressionen hoch, stetig angeheizt von Werchowenskij, und ehe er sich versieht, schlägt seine Gruppe ohne Befehl los. Sie stiften Brände in der Stadt und Aufruhr bricht aus. Werchowenskij, empört über diese mangelnde revolutionäre Disziplin, treibt seine Truppe weiter voran und schreitet zum Äußersten. Die vier jungen Männer werden gezwungen, den „fünften“, den Studenten Schatow zu töten, der aussteigen will, denn er sieht unerwartet Vaterfreuden entgegen und das verleiht seinem Leben wieder einen positiven Sinn. Die Tat wird vollbracht und dem Selbstmörder Alexej Kirillow in die Schuhe geschoben. Allerdings können die jungen Revolutionäre mit der Schuld nicht leben und gestehen öffentlich. Eine letzte Frage bleibt (unbeantwortet). War die revolutionäre Zelle die einzige in Russland, oder gibt es, wie der tyrannische Werchowenskij behauptet, tausende revolutionärer Zellen. Die konspirativen Regeln verboten schließlich aus Sicherheitsgründen den Kontakt der Zellen untereinander. War alles nur ein großer Betrug an den Unzufriedenen, hat man ihnen die Dämonen eingeblasen und sie haben einfach nur Verbrechen begangen?

  Die Daemonen  
 

Harry Schäfer, Pola Jane O´Mara, Silas Breiding, Mara Widmann, Jonathan Hutter

© Gabriela Neeb

 

So funktionierte Verführung, Verblendung und Radikalisierung. So funktioniert es auch heute noch. Und dass die Verführer und Demagogen diese Wahrheiten über ihr Treiben lieber unter dem Teppich halten wollen, beweist die Tatsache, dass Dostojewskijs dystopische Vision, gespeist aus eigener Erfahrung und mit scheinbar gesetzmäßiger Regelmäßigkeit immer wieder historische Realität geworden, in der Sowjetunion zwischen 1917 und 1989 nur ein Mal als Einzelausgabe erschien. Allerdings wurde die Auflage von 1935 noch vor der Auslieferung zurückgehalten und verschwand spurlos. In der DDR erschien der Roman sogar erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Der Grund dafür war eine beiläufige Aussage Lenins aus den zwanziger Jahren, dass der Roman die proletarische Revolution diskreditiere.

Dem jungen Regisseur Felix Hafner, der zuletzt mit der Inszenierung von „Schöne Neue Welt“ nach Aldous Huxley am Volkstheater Akzente setzte, gelang es tatsächlich, diesen 600 Seiten umfassenden Roman in seinen Grundzügen und Botschaften auf die Bühne zu bringen. Der Dramatisierung, bei allen Bemühungen blieb es doch weitestgehend ein Prosatext, muss Respekt gezollt werden, denn die Kunst des Weglassens, auch von Figuren, scheint der 1992 geborene Haffner zu beherrschen. Darüber hinaus hat er den Text mit einer in jeder Hinsicht ambitionierten Ästhetik transportiert. Die Kostüme von Slavna Martinovic waren historisierend und wiesen dabei Eigenheiten auf, die auch die Modeschöpferin in der Kostümbildnerin verrieten. Das Bühnenbild von Stefanie Grau bestand aus neun großen schwarzen Fahnen, die nach Bedarf umarrangiert werden konnten. Sechs große Gebläse brachten Bewegung in die Tücher und unter Zuhilfenahme von Bühnennebel ließen sich auch die erwähnten Feuersbrünste glaubhaft und eindrucksvoll realisieren. Die Musik von Clemens Wenger erzeugte zudem magische Momente in der artifiziellen Aufführung, die in manchen Szenen vom Schauspiel zu Tanztheater wechselte. (Choreographie: Dunja Jocic)

Das alles funktionierte recht gut, denn das Ensemble des Volkstheaters ist dafür bekannt, dass es nach Herausforderungen geradezu giert. So fand zuallererst feinstes Ensembletheater statt. Darüber hinaus gab es aber auch bemerkenswerte Einzelleistungen, allen voran Silas Breiding in der Rolle des Nikolaj Stawrogin. Sein Gestus, im Roman nennt man ihn auch Prinz Harry, hatte etwas von einem Unberührbaren. Keine Schandtat war ihm fremd und er gab seine Verbrechen auch unumwunden zu, wenn es die Situation zuließ, dennoch war er in seinem kategorischen Individualismus ebenso unfrei wie unglücklich. Das hatte er mit allen anderen Protagonisten gemein. Silas Breiding brachte die kontrastierende Abgehobenheit der Figur souverän zum Ausdruck. Man möchte meinen, er war endlich an einen Regisseur geraten, der um seine wirklichen Qualitäten weiß. Auffällig war auch Jonathan Müller, der zwei sehr unterschiedliche Rollen zu gestalten hatte, die des unauffälligen Beamten Wirginskij und die des moralisch völlig verwahrlosten Hauptmanns Lebjadkin, der dieser Aufgabe absolut gerecht wurde. Anfänglich etwas gewöhnungsbedürftig war die Gestaltung des Pjotr Werchowenskij durch Pola Jane O´Mara. Stepan Werchowenskij, Pjotrs Vater, philosophisch parlierend von Jörg Lichtenstein gespielt, ist ein ehemaliger Hochschuldozent, eine moralische Instanz im Ort. Pjotr Werchowenskij ist also ein „Lehrerkind“, ein Besessener, der nur ein Ziel hat: seine Adlaten gefügig und funktionierend zu machen. Das Indoktrinatorische ist dem Wesen der Figur eigen, auch wenn sie gelegentlich sehr schrill, sehr hektisch und sehr zappelig rüberkam: unangenehm, aber durchaus nicht ohne Sinn.

Die dreistündige Inszenierung ist, um es mal lax zu sagen, ein echter Brocken, den nur verdauen kann, wer der Geschichte erliegt und von ihr in den Bann geschlagen wird. Wem das nicht gelingt, sei es wegen der artifiziellen Ästhetik oder wegen der über längere Strecken fehlenden Dialogdramatik oder wegen der Fülle an intellektuellen Ausflügen in die nicht immer nachvollziehbaren Sphären der Philosophie oder der Religion, der wird unweigerlich quälende Längen empfinden.

Dennoch muss ein Stab für die Inszenierung gebrochen werden, da eine publikumsfreundliche Umsetzung des gewaltigen Stoffes kaum möglich ist. Ein zwingender Grund für den Besuch dieser Inszenierung ist die Aktualität, denn wir befinden uns in einer sehr ähnlichen Situation der Verunsicherung, des Mangels an Vertrauen in staatliche Institutionen und politischen Programmen. Und wir sehen überall die Brandstifter, die ungezügelt zündeln und unverhohlen die nächste Stufe der Eskalation von Gewalt predigen und vorbereiten. Dostojewskij hat in seinem Roman ein sehr klares und historisch fundamentiertes Bild vom Ergebnis dieser Entwicklung gezeichnet. Er hat dabei keinen Zweifel daran gelassen, dass Verführung kein Phänomen ist, sondern das Ergebnis zielgerichteter Arbeit von Verführern und Demagogen. Wenn etwas besonders einfach, einleuchtend, glaubhaft und vernünftig klingt, sollte man unbedingt erst einmal misstrauisch sein und hinterfragen. Die effektivste Lüge war noch immer die, die im einfachen, uns vertrauten Gewand daherkam.

Das gilt übrigens auch in Bezug auf Dostojewskij, einem der bedeutendsten Vertreter des Realismus des 19. Jahrhunderts, der sich selbst gern mit Rousseau verglich und der uns heute als integrer, den Humanismus und die Wahrheit befördernden Menschen in seinen Werken gegenübertritt. In seinem Roman „Die Dämonen“ gesteht Nikolaj Stawrogin, dass er ein junges Mädchen vergewaltigt hat, die sich schließlich das Leben nahm. In einem Brief vom 28. November 1883 beklagt sich der Philosoph N.N. Strachow beim Grafen L.N. Tolstoi, dass er Dostojewskij gegenüber eine tiefe Abscheu empfinde wegen dessen Eigenschaften. Er beschrieb den Schriftsteller als böse, gemein, lasterhaft und neidisch. Dostojewskij sei ebenso böse wie klug und Strachow erwähnte in diesem Brief, dass sich Dostojewskij einem Bekannten gegenüber rühmte, ein kleines Mädchen in einem Badehaus missbraucht zu haben, das ihm von dessen Gouvernante zugeführt worden war. Vielleicht wollte Dostojewskij sich mit diesem Buch auch von den eigenen Dämonen befreien.

Wolf Banitzki

 


Die Dämonen

Fjodor M. Dostojewskij
In der Übersetzung „Böse Geister“ von Swetlana Geier

Silas Breiding, Pola Jane O´Mara, Jakob Immervoll, Mara Widmann, Jonathan Hutter, Jonathan Müller, Harry Schäfer, Carolin Knab, Jörg Lichtenstein, Ensemble

Regie: Felix Hafner

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.