Volkstheater Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino von Martin Crimp


 

Die Antwort ist: Der Mensch!

Der britische Autor Martin Crimp wählte für sein Antikendrama „Die Phönizierinnen“ von Euripides. Schon diese Wahl setzt Zeichen, denn Euripides war der Renegat unter den Theatermachern des 5. Jahrhunderts v.Chr. Es war, was die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit anbelangt, eine Zäsur. Es ist das Jahrhundert des Sokrates und des Plato, aber auch des Aischylos, des Sophokles und des Euripides. Letzterer war stark beeinflusst von den Sophisten, die den Menschen und die Vernunft in den Mittelpunkt ihres Weltbildes rückten und damit dem „Tun der Götter“ und dem Treiben des von den „Göttern gegebenen Staates“ eine Abfuhr erteilten. Euripides war das theatralische Sprachrohr der ersten Aufklärungsepoche der Menschheit.

Er war dahinter gekommen, dass nicht die Götter den Menschen geschaffen hatten, sondern umgekehrt. Der Dramatiker stellte den Göttern und dem Staat die Macht der Vernunft, des Wissens und Erkennens und die Kraft der Erziehung gegenüber und löste das Theater somit aus dem Kultischen. Bürgerliche Tugenden wurden abgehandelt und Euripides zahlte einen hohen Preis dafür. Nur vier Mal wurde ihm der Lorbeer für den besten Dichter während der Dionysien zuerkannt. Er war unpopulär bei den Preisrichtern und der konservative Komödiendichter Aristophanes verspottete ihn sogar öffentlich. Schließlich folgte Euripides einer Einladung des makedonischen Königs Archelaos und ging ins Exil, wo er zwei Jahre später starb, wodurch er wieder populär wurde. Der fast neunzigjährige Sophokles leitete die Trauerfeierlichkeiten in Athen während der Dionysien. Man führte drei nachgelassene Dramen von Euripides auf und krönte sie mit dem ersten Preis.

Was war so schockierend an den Dramen Euripides'? Der Dichter entvölkerte den Götterhimmel und übertrug dem Menschen die ganze Last des „Schicksals“, für das gemeinhin die Götter verantwortlich waren. Die schmähte und verhöhnte er unverhohlen. Einzig Pallas Athene ließ er unangetastet, was ein kluger politischer Schachzug zu seinem Selbstschutz war. Nun klagte der Mensch ins Leere und wurde sich der Tatsache bewusst, dass dem Schicksal keine Prädestination innewohnte, sondern nur blindwütiger Zufall. Martin Crimp erzählt die Geschichte des fluchbeladenen Labdakiden-Geschlechts, beginnend mit Laios, König von Theben, der mit Iokaste verheiratet war und mit der er den Sohn Ödipus zeugte. Das Orakel von Delphi hatte vorausgesagt, dass Ödipus seinen Vater töten werde. Also hatte man dem Knaben die Fersen durchbohrt (Daher sein Name Ödipus, was Schwellfuß bedeutet.) und im Gebirge ausgesetzt. Ödipus überlebte.

Die Geschichte ist hinlänglich bekannt. Auf dem Weg nach Theben stößt er an einer Weggabelung auf seinen Vater und erschlägt ihn. In Theben löst er das Rätsel der Sphinx und die Stadt aus der Umklammerung einer fürchterlichen Dürre. Zum Dank dafür macht man ihn zum König und gibt ihm gleich noch Iokaste, die Witwe seines Vaters und seine Mutter, zur Frau. Mit ihr zeugt er zwei Söhne und zwei Töchter, die zugleich seine Halbgeschwister sind. Nachdem der Vatermord und der Inzest ruchbar werden, blendet sich Ödipus. Sein Schwager Kreon setzt die Brüder Polyneikes und Eteokles als Könige ein. Sie sollen das Amt wechselweise für jeweils ein Jahr ausüben. Als Eteokles den Thron jedoch nicht wie versprochen räumt, stellt Polyneikes in Argos gemeinsam mit König Adrastos ein Heer auf („Sieben gegen Theben“) und zieht gegen Theben. Dort hebt ein lustiges Schlachten an und beinahe alle Protagonisten lassen ihr Leben entweder durch die Schlacht, den Kampf, durch das Gesetz oder durch die eigene Hand. Als man wieder zur Besinnung kommt, watet Theben im Blut.

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Nina Steils, Anna Roth, Ines Hollinger, Silas Breiding

© Gabriela Neeb

 

Martin Crimp verhandelt die Geschichte, als geschähe sie heute und tatsächlich bleiben die Parallelen unübersehbar. Die üblichen Blockbuster Bilder belässt er, wo sie allenthalben zuhause sind. Im Kino. Also: „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“. Er hat das Heldenepos mal eben auf links gekrempelt und schaut sich das Innenleben an. Darin wird über die Frage disputiert, wer die Gerechtigkeit auf seiner Seite hat und darum einen „gerechten Krieg“ führt. Schnell wird deutlich, dass genau diese hohlen Phrasen bloße Politik um Machtansprüche sind und nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Eine Frage wird immer wieder angedeutet und die Antwort darauf immer wieder zitiert, nämlich die Frage der Sphinx. „Die Antwort ist: Der Mensch!“ Und genau diese Unausweichlichkeit macht die großartige Qualität des Stückes aus. Wie auch immer wir die Dinge zu rechtfertigen suchen, ob mit politischen oder ethischen Argumenten, ob wir Orakel herbeizitieren oder das Schicksal beschwören, ob wir vermeintlich zum Wohl der Allgemeinheit morden und die persönlichen Interessen damit zu kaschieren suchen, die Frage nach dem Urheber allen Glücks oder Unglücks kennt nur eine Antwort: „Der Mensch!“

Regisseurin Mirja Biel hat Crimps Vorlage krachig laut, ästhetisch überzeichnet und argumentativ hammerhart auf die Bühne gebracht. Ines Hollinger und Nina Steils gaben die Mädels, rotzfrech, aggressiv und unbekümmert. So sah man den antiken Chor wohl noch nie. Es hatte immer einen Unterton von: Hört doch endlich auf, euch etwas vorzumachen! Timocin Zieglers Polyneikes war ebenso unnachgiebig wie sein Gegenspieler Eteokles, der allerdings kapriziös wie eine Diva von Nicolas Streit gegeben wurde. Ihm hatte die Machtgeilheit das Hirn hinlänglich vernebelt. Immerhin reichte es noch, eine Rechtfertigung im Stile skrupelloser Potentaten abzuliefern, die sich am besten mit dem Leitsatz des chilenischen Diktators Pinochets umschreiben ließe: „Ich oder das Chaos!“ Polyneikes bemühte die Demokratie und ihre Verteidigung, um sein blutiges Fatum zu erfüllen.

Angesichts der Geschichte ließ sich in Crimps Drama keine wirklich positive, vernunftgesteuerte und empathische Figur ausmachen. Mara Widmanns Iokaste war Opfer und orientierungslos. Sie brachte ihrem weggesperrten Ehemann Ödipus das Essen im Hundenapf und konstatierte mit Erstaunen, dass er auch vom Boden isst. Antigone, gespielt von Pola Jane O´Mara, war eine launenhafte Göre und so gar nicht das heroische Wesen, das mit der Beerdigung ihres Bruders Polyneikes, sie sieht darin den Willen der Götter, sein Leben verwirkt. Jonathan Müllers Kreon war bemüht, den Pragmatiker zu geben, der er in der antiken Geschichte auch war, doch Martin Crimp entblättert sie im Text allesamt, und Mirja Biel setzt genau das in Bilder um. Am deutlichsten wurde das bei der Figur des blinden Sehers Teiresias. Silas Breiding spielte ihn wie einen Zombie, der allerdings den Zombie nur spielt. Er war vielleicht der schlimmste geistige Brandstifter, denn er hatte die Konsequenzen nicht auszubaden.

Angesichts des Bühnenbildes von Matthias Nebel traf ein Attribut ganz sicher nicht zu: attraktiv. Die 80er Jahre Kunstledersessel passten immerhin zu den Kassettenrekordern, die zur Beweisführung die Aussagen der Protagonisten von Magnetbandkassetten wiedergaben. Im Hintergrund war Theben im Puppenstubenformat aufgebaut und zuletzt niedergebrannt worden. Und einen Container mit schallgeschützter Tür gab es, das Verlies des Ödipus. Einige anthrazitfarbene Felsbrocken lagen auf der Bühne, von den feindlichen Truppen als Wurfgeschosse in die Szene gefeuert. Um Attraktivität, die ja nicht selten eine schamlose Lüge ist, ging es nicht, denn die hat Martin Crimp im Kino belassen. Mögen die antiken Architekturen auch attraktiv sein, die seelischen Abgründe ihrer Krieg und Gewalt treibenden Bewohner waren es mit Sicherheit nicht. Insofern war es dann doch wieder stimmig.

Wolf Banitzki

 


Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino

von Martin Crimp
nach Euripides' "Die Phönizierinnen"

Nina Steils, Ines Hollinger, Anna Roth / Maya Zankov, Mara Widmann, Pola Jane O´Mara, Jonathan Hutter, Timocin Ziegler, Nicolas Streit, Jonathan Müller, Silas Breiding

Regie: Mirja Biel
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