Volkstheater  Der Kaufmann von Venedig  von William Shakespeare


 

Der Schoß ist nicht nur fruchtbar, er ist schon trächtig

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde das Problem Antisemitismus vornehmlich unter historischem Aspekt behandelt, obgleich er doch nie wirklich verschwunden war. Für eine gewisse Zeit waren sie abgetaucht, die Antisemiten, doch nun hat sich das politische Klima soweit verändert, dass man wieder Schuldige braucht. Ja, wofür eigentlich? Noch nie ging es den Deutschen so gut wie zurzeit. Wir haben annähernd Vollbeschäftigung, die Löhne und Gehälter sind gut bis üppig. Die Reichen haben ihren Reichtum im letzten Dezennium verdoppelt. Es gibt noch immer eine Menge Ungerechtigkeiten, doch wir haben die Freiheit, sie zu benennen und anzuprangern. Wir leben in einer Demokratie, die immer noch so stabil ist, dass sie beispielsweise Gesetze für Mindestlöhne erlassen kann, und die Politik bemüht sich, wenn es die Wirtschaft denn zulässt, auf noch vorhandene Missstände zu reagieren. Könnte es vielleicht sein, dass fast vier Legislaturperioden visionslose und utopiefreie Politik nicht folgenlos bleiben?

Plötzlich kriechen Gestalten unter den Runensteinen der Geschichte hervor und indoktrinieren ein Volk dergestalt, dass es sich plötzlich bedroht sieht und fühlt. Schuldige haben wir en masse, die Ausländer. Und weil es wieder opportun ist, mit Fingern auf andere Menschen zu zeigen und ihnen Gewalt anzudrohen, wenn sie nicht verschwinden, werden auch die alten Feindbilder wieder aus der Mottenkiste der Geschichte gezaubert. Der Jude (an sich und im besonderen) ist ein solches.

Tatsache ist, der Jude taugt viel besser als jeder andere „Feind nicht nur des deutschen Volkes“, denn die Argumente gegen ihn sind so alt, dass man sie gar nicht in Frage stellen kann, sonst müsste man nämlich zugeben, seit annähernd 2000 Jahren mit einer Lüge zu leben. Tatsächlich gibt es das Feindbild des Juden solange, wie es das Christentum gibt. Seit das Christentum römische Staatsreligion wurde, predigten ihre Priester gegen das Judentum. Es gab eine psychologische und eine theologische Notwendigkeit für die Christen, sich von den Juden abzusetzen, denn die jüdische Religion erkennt die Offenbarung Christi nicht an. Das erschütterte immer wieder das Vertrauen in die Offenbarung, denn wenn die Juden den Messias ablehnen, der ihnen durch ihre eigenen Bücher in Aussicht gestellt wurde, kommt unweigerlich die Frage auf, handelt es sich bei Jesus um einen falschen Messias, oder aber war das jüdische Volk vom rechten Weg abgekommen und den Versuchungen des Teufels erlegen. Juden verhielten sich folglich widerspenstig in religiösen Fragen, was über lange Zeit gleichzusetzen war mit sittlicher Ordnung, und gehörten für diesen Frevel bestraft, besser noch, ausgerottet.

Das traurigste an der ganzen Geschichte ist, dass wir es zweihundert Jahre nach der Aufklärung nicht geschafft haben, uns aus dieser Spirale zu lösen, obgleich wir alle wissenschaftlichen und philosophischen Möglichkeiten gehabt haben, Religion zu überwinden und sie als das was sie ist zu begreifen, nämlich als ein Wahn. Wer meint, wir hätten mit dem Westfälischen Frieden von 1648 Religionskriege ein für alle Mal überwunden, der irrt gewaltig. Es gibt immer noch Zeitzeugen und Überlebende des Holocaust und dennoch sind sie schon wieder da, die geistigen Brandstifter und die verblendeten Attentäter. Also, höchste Zeit sich dem Problem wieder einmal zu stellen. Christian Stückl tat das, denn er brachte Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, uraufgeführt 1595, nicht nur auf die Bühne, sondern auch in unser aktuelles Bewusstsein.

  Der Kaufmann von Venedig  
 

Jonathan Hutter, Silas Breiding, Vincent Sauer, Carolin Hartmann, Pascal Fligg, Jan Meeno Jürgens

© Arno Declair

 

Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass es sich um einen brandaktuellen Fall handelte, nämlich um den Fall des portugiesischen Juden Roderigo Lopez, Leibarzt der Königin Elisabeth I. Zu dieser Zeit war es Juden per Gesetz verboten, in England zu leben. Der Jude war eher ein Mythos, denn eine Realität. Jener Lopez wurde vom Grafen Essex angeklagt, die Ermordung der Königin auf Geheiß des spanischen Königs Phillip II. betrieben zu haben. Obgleich Elisabeth I. nicht an die Schuld glaubte, unterschrieb sie das Todesurteil. Lopez, der übrigens zum Christentum konvertiert war, wurde am 7. Juni 1594 hingerichtet. Seine Familie durfte immerhin einen Teil des Besitzes behalten. Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ war indes so etwas wie der Gegenentwurf zu einem anderen Stück, das die Judenthematik zur Modeerscheinung machte. Gemeint war Christopher Marlows „Der Jude von Malta“. Sein Jude war der dämonische Barrabas, ein Mörder und Christenhasser und ein abgefeimter Zyniker.

Christian Stückl verkürzte das Stück auf den wesentlichen Handlungsstrang und auf einige wenige Protagonisten, gerade genug, um die Geschichte ohne gravierende Banalisierungen über die Rampe zu bringen. Und er wählte als Spielort die Welt der Nadelstreifen. Die Darsteller erinnerten sehr an die „Champagnerboys“ der Londoner Börse vor dem Bankencrash, die ihre täglichen fünfstelligen Spekulationsgewinne allabendlich mit Champagner feierten. Stefan Hageneiers Bühne, er zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich, bestand aus der goldfarbenen gläsernen Fassade eines Businesshauses mit drei Drehtüren. Damit war alles gesagt.

In der Geschichte geht es um ein Pfund Menschenfleisch als Sicherheit für den Betrag von dreitausend Dukaten. Den borgt der Kaufmann Antonio, arrogant, steif und prinzipienreitend von Silas Breiding gespielt, vom jüdischen Kaufmann Shylock, mit vielen emotionalen Facetten grandios gestaltet von Pascal Fligg. Shylock wird wie kein anderer von der christlichen Gesellschaft der Kaufleute gemobbt, diskriminiert, diskreditiert und beschimpft. Dabei kommen alle Vorbehalte, die das Christentum im Laufe der langen Geschichte gesammelt hat, zur Sprache. Shylock, ohne allen Beistand, muss schlucken. Und er schluckt, bis es ihn zu zerreißen droht. Die dreitausend Dukaten dienen Bassanio, hochenergetisch und mit eher süditalienischem Temperament ausgestattet, gestaltet von Jonathan Hutter, zur Brautwerbung um die kluge und schöne Portia in Belmont. Antonio ist bereit, für den Freund jeden Schein zu zeichnen. Shylock besteht auf ein Pfund Fleisch des Schuldners als Sicherheit und Antonio akzeptiert leichtfertig. Er vertraut auf den Gewinn, den ihm seine Schiffe einbringen werden, die allerdings auf hoher See sind und fatalerweise auch bleiben.

Doch zuvor wird ihm noch mehr Schmach angetan. Seine Tochter Jessica, romantisch verliebt und hochgradig naiv von Henriette Nagel gespielt, brennt Nächtens mit dem Christen Lorenzo durch. Das erregt den allgemeinen Spott der Venezianer und Shylock kann sich kaum noch beherrschen in seinen Rachegelüsten. Der junge Lorenzo, skrupellos und egoistisch von Vincent Sauer gegeben, nahm ihm nicht nur die Tochter, sondern auch (oder besser vor allem) eine nicht unerhebliche Barschaft, Schmuck und Geschmeide. Bald erhält Shylock Kunde vom ausschweifenden Leben des verheirateten Paares, Jessica ist konvertiert, in Padua. Ehe Bassanio zur Brautwerbung in Belmont eintrifft, versucht es ein anderer vermeintlicher Freund Bassanios, Graziano. Jaan Meeno Jürgens verlieh dieser Figur eine enorme Hinterhältigkeit, die doch immerhin bestraft wurde, denn bei Portia konnte er mit seinem Narzissmus und seiner Egomanie nicht landen. Bassanio war erfolgreich und Portia erhörte ihn. Dann traf die Kunde ein, dass Antonios Schiffe allesamt gesunken sind und er nun in der Hand Shylocks ist, der gnadenlos das Pfund Fleisch einfordert.

Portia, die von Carolin Hartmann mit kaum überbietbarem Selbstbewusstsein ausgestattet wurde, verfügte über die Mittel, Antonio und damit auch den geliebten Bassanio aus der Schuld zu erlösen. Sie reiste in Venedig in Männerkleidern als Richter an, um schlimmeres zu verhindern. Unerkannt, als Schreiberin verkleidet, begleitete sie Jessica. Portia verhandelte den Fall. Sie musste das Recht Shylocks anerkennen und plädierte für die Gnade Shylocks. Doch der blieb hart. Nun drehte Portia mittels juristischer Spitzfindigkeiten den Spieß um, und machte Shylock zum Angeklagten. Die christliche Kaufmannschaft kam ungeschoren aus der Sache heraus, Shylock indes durfte sich glücklich schätzen, sein Leben nicht zu verlieren wie sein Vermögen, das er per Richtspruch an seine christliche Tochter abtreten musste. An dieser Stelle feiert der Zynismus einen gewaltigen Triumph und der Jude musste schweigend abgehen.

Schade, dass Christian Stückl nicht auf die vergleichsweise banale Geschichte des Liebesbeweises von Bassanio und Portia verzichtet hat. Sie verwässerte am Ende den großen Moment des Triumphes des Antisemitismus, der auf erschütternde Weise offenkundig wurde. Ein großer Moment der Inszenierung war naturgemäß der große Monolog des Shylocks, in dem er auf die Gleichheit aller Menschen aufmerksam machte: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? …“ Die Katharsis wäre wirklich erschütternd gewesen. Doch ungeachtet dessen leistete die Inszenierung einen Beitrag von kaum zu überschätzendem Wert. Darüber hinaus wurde wieder einmal deutlich, welchen Stellenwert das Werk Shakespeares im heutigen gesellschaftlichen Diskurs haben kann. Brechts Warnung vor dem braunen Ungeist, die da lautete „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, muss inzwischen allerdings leider erweitert werden durch den Zusatz, „er ist schon trächtig“.

Wolf Banitzki

 


Der Kaufmann von Venedig

von William Shakespeare

Mit: Silas Breiding, Jonathan Hutter, Jan Meeno Jürgens, Vincent Sauer, Pascal Fligg, Henriette Nagel, Carolin Hartmann

Regie: Christian Stückl
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