Volkstheater Wer hat meinen Vater umgebracht (DE) nach Édouard Louis
Kein Erbarmen für das Proletariat
Vorlage für die gut einstündige Inszenierung von Philipp Arnold auf der kleinen Bühne des Volkstheaters ist der gleichnamige dritte Roman des jungen französischen Autors Édouard Louis. Es ist ein zorniger Roman, in dem er sein Verhältnis zu seinem Vater zu bewältigen versucht. Die Spannungsgeladenheit resultiert aus der sozialen Lage der Familie. Geboren wurde der Autor in der nordfranzösischen Provinz, in der in den letzten Jahrzehnten die gesellschaftstragende Industrie gestorben oder abgewandert ist. Zurückgeblieben ist ein Heer von Arbeitern, die zum Teil in prekären Verhältnissen leben müssen. Édouard Louis definiert diese Welt in einem Interview, abgedruckt im Programmheft zur Inszenierung unter Berufung auf Karl Marx, als die Welt des Lumpenproletariats.
Das ist schwer vorstellbar, denn Marx definierte das Lumpenproletariat im „Kapital“ 1. Band wie folgt: „Abgesehen von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschicht (gemeint ist das Proletariat – W.B.) aus drei Kategorien.“ (23. Kapitel – Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation) Die Verkürzung des Autors ist vermutlich der Dramatik geschuldet, zu der linke Intellektuelle gelegentlich neigen. Dennoch ist die Aussage keineswegs unzutreffend, insbesondre, wenn es um den Vater von Édouard Louis geht. Der ist zuletzt durch einen Arbeitsunfall invalid geworden und ist nach Marx definitorisch der dritten Schicht des Proletariats zuzuordnen: „Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige. Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehen, (…) endlich Opfer der Industrie, deren Zahl mit gefährlicher Maschinerie, Bergwerksbau, chemischen Fabriken etc. wächst, Verstümmelte, Verkrankte, Witwen etc.“
Die Rohheit der Verhältnisse, über die Marx schrieb, ist längst nicht überwunden, lediglich durch den Hochglanz des modernen Neoliberalismus weniger penetrant sichtbar. Es galt damals und es gilt heute: Nur ein Überfluss an doppeltfreien Lohnarbeitern, die zueinander in einem natürlichen Konkurrenzverhältnis stehen, sichert niedrige Löhne und Beschäftigungsflexibilität für den Unternehmer. Allzu gern möchte man die Menschen glauben machen, es gäbe dazu keine Alternative. Einer der Apologeten des Kapitalismus, der Abbé Galiani (1728-1787), verkündete seinerzeit galant und geistreich: „Gott hat es gefügt, dass die Menschen, die die nützlichsten Berufe ausüben, überreichlich geboren werden.“ Für sein Hauptwerk „Moneta – Libri Cinque“ (Über das Geld – fünf Bücher) und für seine Verdienste als Wirtschaftstheoretiker erhielt der weltliche Mann die Pfründen des Bistums Centola und der Abtei San Lorenzo. Galiani empfing die niedere Priesterweihe und konnte seinen Reichtum genießen. Er hatte der Kirche aus dem verfetteten Herzen und der korrupten Seele gesprochen.
Jakob Geßner, Jonathan Hutter, Anne Stein © Gabriela Neeb |
Und wenn man die Geschichte des Eddy Bellegueule, so der bürgerliche Name des Autors, liest, wird genau diese Verrohung deutlich. Zur Scham über die Klassenzugehörigkeit kommt in dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Vater und Sohn auch noch das „Stigma“ der Homosexualität. Der Vater in frühen Jahren: „Schwule muss man töten.“
Es ist schon erstaunlich, dass gerade Menschen, die kaum etwas zu verlieren haben, sich so sehr an gesellschaftliche Konventionen klammern. Die Mutter durfte, obgleich sie es sich wünschte, nicht arbeiten. Rassismus war fester Bestandteil des Weltbildes der Arbeiterklasse. Arbeiter leben nicht selten über ihre Verhältnisse, um ihre Besitzlosigkeit zu kaschieren. Männliche Dominanz muss mit allen Mitteln, auch mit Gewalt, durchgesetzt werden. Bildungsferne wurde gepflegt, weil es als besonders männlich galt, frühzeitig die Schule zu verlassen, um seinen Platz in der Arbeitswelt einzunehmen. Und nicht zuletzt ist Alkohol und Alkoholismus eine mit diesem Männerbild einhergende Erscheinung.
Die Rede ist nicht vom frühindustriellen Zeitalter mit dem dazugehörigen Pauperismus. Édouard Louis ist Jahrgang 1992. Er musste sein Elternhaus zum eigenen Fortkommen und zum eigenen Schutz beizeiten verlassen, seine Herkunft verleugnet er indes nicht. Vom Vater blieb der Satz: „Ich schäme mich für dich, weil du schwul bist.“ Der Vater war, was das System aus ihm gemacht hatte und der Sohn verzieh ihm, weil er es besser wusste. Die Wut hat ihn zum Schreiben gebracht. Die Wut darüber, dass die Literatur sich kaum oder gar nicht um diese soziale Schicht kümmert.
Regisseur Philipp Arnold inszenierte den Roman auf der kleinen Bühne des Volkstheaters. Von Belle Santos ließ er sich ein fragiles und halbtransparentes Gebäude errichten, das zugleich die Welt der Familie Bellegueule begrenzte. Nach einer Introduktion durch die drei Darsteller wurden die vorderen und seitlichen Wände des Gebäudes heruntergerissen und das Spiel verlagerte sich vornehmlich nach innen. Die Rückwand blieb als Projektionsfläche für Videoaufzeichnungen der zeitgleichen Vorgänge stehen. Alle drei Darsteller, Jakob Geßner, Jonathan Hutter und Anne Stein übernahmen auch sämtliche Parts. Der Wechsel geschah durch Masken. Mit diesen Masken wurden der Vater und die Mutter verkörpert. Durch die Masken verschwand der individuelle Ausdruck der Figur und es bleib einzig das Wort, dem alle Aufmerksamkeit galt. Es war über weite Strecken Erzähltheater, schlüpfte der Darsteller in eine konkrete Figur, geschah das oft mit äußerster Expression. Das Spiel war, anders als die Beschreibungen und Erzählungen, keinem Realismus verpflichtet. Die Kostüme von Belle Santos waren so unverbindlich wie „Arbeitskleidung“.
Somit war der Fokus zu allererst auf die Geschichte gerichtet, unterbrochen von kurzen Videosequenzen, in denen die Gesichter der Darsteller übergroß an der Rückwand zu sehen waren. Dann zeigte sich, wie viel Zartheit und auch Zärtlichkeit den Vorgängen innewohnten. Die Beziehungen aller Figuren untereinander waren äußerst ambivalent. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn erfuhr letztlich eine Entwicklung und Vater und Sohn fanden, soweit es überhaupt möglich war, zumindest in dem Bewusstsein zueinander, dass sie nicht in der besten aller Welten lebten und dass ihr Leid, und als ein solches stellte sich die Beziehung dar, nur in überschaubarem Maße selbstverschuldet war.
Zuletzt wurden das System des Kapitalismus angeklagt, aber auch konkrete Personen im Dienste des Systems. Es fielen Namen: Chirac, Sarcozy, Hollande und Macron. Und es wurden ihre jeweiligen Verdienste beim Abbau von sozialen Errungenschaften und Rechten aufgezählt. Es war zugleich eine Beschreibung des physischen und sozialen Niedergangs des Vaters, der zuletzt, obgleich medizinisch attestiert als arbeitsunfähig nach einem Betriebsunfall eingestuft, als Straßenreiniger arbeiten musste, um die erbärmlich niedrigen Einkünfte nicht zu verlieren. So erhielten die Zuschauer am Ende eine klare Antwort auf die Frage, “Wer hat meinen Vater umgebracht“. Es gibt kein Erbarmen für das Proletariat.
Wolf Banitzki
Wer hat meinen Vater umgebracht (DE)
nach Édouard Louis
Mit: Jakob Geßner, Jonathan Hutter, Anne Stein Regie: Philipp Arnold |