Volkstheater Schilf nach dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh




Wenn sich das Leben im Denken verflüchtigt

Schilf, Kriminalkommissar mit der ganz besonderen Sensibilität, kommt erst spät ins Spiel. Im Gegensatz zu üblichen Kriminalstorys dauert es auch eine ganze Weile, ehe das Verbrechen geschieht. Der Zuschauer kennt den Täter. Es ist Sebastian, Philosophieprofessor in Freiburg. Das Opfer, Dabbeling, ist Mediziner. Er ist ganz augenscheinlich in einen Pharmaskandal verwickelt. Er wurde Fahrrad fahrend von einem Drahtseil geköpft, das Sebastian über seine Trainingsstrecke gespannt hatte. Nebenbei, es handelt sich hier um eine alte Nazimethode. Was könnte einen Physikprofessor wie Sebastian zu so einer Tat veranlassen? Natürlich die Entführung seines Sohnes, von der dieser später allerdings nichts weiß, da er das Verbrechen verschlief. Es sind sonderbare Vorgänge, kaum zu verstehen. Doch die Lösung ist banal, so banal, dass man sie mit großen wissenschaftlichen oder zumindest wissenschaftlich klingenden Thesen untermalen muss, damit sie einigermaßen erträglich wird.

So beginnt das zum Bühnenstück getrimmte Prosawerk mit zwei jungen Studenten, denen die Genialität aus den Knopflöchern quillt. Ein heiliger Schauer befällt den Betrachter angesichts der sehr wissenschaftlich klingenden Welterklärungen, die allerdings nicht mehr als populäre Thesen vorstellen. Eine These (Sie ist ebenso wenig beweisbar oder widerlegbar wie Gott.) tritt später in den Vordergrund, nämlich die von Hugh Everetts stammende Viele-Welten-Interpretation, eine Interpretation der Quantenmechanik, welche auf der "relative-state-Formulierung" ("Relativer-Zustand-Formulierung") beruht. Alles klar?

Friedrich Mücke, Johannes Silberschneider

© Gabriela Neeb


Keine Bange, man bleibt an der Oberfläche, denn hier soll nicht Aufklärung geleistet, sondern Eindruck geschunden werden. Darum kommt man denn auch schnell zu den lockeren Sprüchen des britischen Quantencomputer-Pioniers David Deutsch über Paralleluniversen, Zeitreisen und wie der Spiegel zum Thema titelte, den größten Physikskandal des 20. Jahrhunderts. Deutsch meinte, es sei durchaus vorstellbar, ja, sogar sehr wahrscheinlich, dass Queen Elisabeth und Michael Gorbatschow Tee miteinander trinken - in einem anderen Paralleluniversum, wohlgemerkt. Im Stück erzeugte man besagten heiligen Schauer mit der These, Kennedy fahre am besagten Tag nicht durch Dallas und …

Wozu diente nun eigentlich das ganze hirnlastige Zeug, das, wie erwähnt, nicht wirklich den Horizont erweiterte? Es ging darum, einmal mehr den Beweis anzutreten, dass die Dinge nicht sind, wie sie scheinen. Wenn dann noch ein wenig Heisenbergsche Unschärferelation hinzu kommt, beschleicht den Zuschauer das unheimliche Gefühl, er habe bislang in einer falschen Realität gelebt. Juli Zeh hatte dabei jedoch ein literarisches Exempel im Auge, nämlich eines, das Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ethik gibt. Das ist gewiss nichts neues, aber doch allemal eingängiger (weil nicht so ernsthaft) und unterhaltsamer als Brechts "Galilei". Immerhin, am Ende steht die These, dass es besser wäre, eine Welt zu akzeptieren und darin Verantwortung zu übernehmen, als in Parallelwelten herumzuschweinigeln.

Und noch einiges scheint zu gelingen, beispielsweise die Erklärung, wie Schilf seinem Hirntumor ins Auge schauen kann, ohne vom Schwindel nieder gestreckt zu werden. Alles das nimmt seinen Weg über Deklamation, denn die Bearbeitung durch Bettina Bruinier und Katja Friedrich ergab kein Drama, sondern nur gelegentlich dramatische Einsprengsel. Ansonsten wird erzählt. Auch wenn die Geschichte eigentlich nicht mehr ist als ein intellektuell aufgeblasener Tatort, ist sie in der Inszenierung des Volkstheater unbedingt sehenswert.

Regisseurin Bettina Bruinier inszenierte mit Schwung eine verworrene Geschichte, die letztlich den Besucher nie ausließ, selbst wenn dieser nicht immer unbedingt folgen konnte. Sämtliche Schauspieler agierten auf der kleinen, von Justina Klimczyk nach pragmatischen Gesichtspunkten sinnfällig gestalteten Bühne mit höchster Intensität. Allen voran Johannes Silberschneider als Schilf. Er war ein Kriminalkommissar, der unkonventionelle Wege ging. Seine zutiefst menschliche Ausstrahlung, sein durchaus klischeehaftes Aussehen mit "Trenchcoat und Vogelgesicht", sein Verbindlichkeit im Umgang mit Zeugen oder Verdächtigen war entgegen aller Vorstellung vom Habitus eines Polizisten dennoch sehr effektvoll. Dabei wurde Silberschneider nie expressiv; er erweckt nie den Eindruck, er stehe drüber. Der Schauspieler Silberschneider spielte stets die ureigenste Prämisse der Rolle Schilfs: Nimm erst einmal das Gegenteil von dem an, was sich dir aufdrängt. In diesem Sinne hatte er auch seine Schülerin Rita ausgebildet, der er im Stück kriminaltechnisch assistierte. Sophie Wendt spielte überzeugend eine im Leben stets zu kurz gekommene Frau, die aber gerade aus diesem Grund eine gute Polizistin wurde. Sie blieb das hässliche Entlein, aber niemand nahm ihr mehr die Butter vom Brot. Friedrich Mücke (Sebastian) und Andreas Tobias (Oskar) spielten die von der Aura des Genies umgebenen Physiker. Andreas Tobias konnte, da die Geschichte ihn nur geringfügig veränderte, diese Haltung des arroganten Sunnyboys und Nobelpreisanwärters bis zum Ende zelebrieren. Friedrich Mücke hingegen schlitterte als Sebastian in die größtmögliche Katastrophe, was er dem Publikum auch höchst lebendig vermitteln konnte. Barbara Romaner gestalte anmutig eine liebende Ehefrau und Mutter. Sie war im Konflikt jedoch eher eine Nebenrolle. Hier schlug die Dramaturgie des Romans zum Nachteil des Dramas zurück. Besonders sehens- und vor allem hörenswert war die Gestaltung einer populärwissenschaftlichen Sendung im ZDF. Was sich in dieser Szene ereignete, war nebenher auch eine treffliche Medienkritik an der heutigen Bla-bla-bla-Kultur.

Und damit der große Entwurf intellektuell nicht an Niveau verlor, ergab sich die Lösung des Mordfalls, verbunden mit der Selbsterkenntnis eines Tumorinhabers, der Vollendung einer kriminalistischen Beweiskette, dem Erringen einer höheren Moral und dem populärwissenschaftliche Höhenflug in die Philosophie der Physik, aus einer Formulierung George Orwells (1984). Ein schlichtes Missverständnis, ein Kommunikationsfehler hatte die Katastrophe ausgelöst. Sie erinnern sich? Der zufällige Flügelschlag eines Schmetterlings kann ins Chaos führen.


Wolf Banitzki

 

 


Schilf

nach dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh

Bühnenbearbeitung: Bettina Bruinier, Katja Friedrich

Friedrich Mücke, Barbara Romaner, Johannes Silberschneider, Andreas Tobias, Sophie Wendt

Regie: Bettina Bruinier
Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.