Volkstheater Einer flog über das Kuckucksnest von Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey
Der Roman von Ken Kesey erzählt die Geschichte des Strafgefangenen Randle P. McMurphy, ein Mann, dem seine individuelle Freiheit wichtiger ist als die repressiven empfundenen Regeln der Gesellschaft. Er wurde zum Outlaw, weil ihn sein eigenes Gerechtigkeitsempfinden überschäumen ließ. Körperverletzung, Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses brachte ihm ein Haftstrafe ein. Um diese erträglicher zu gestalten, ließ er sich in eine psychiatrische Klinik einweisen. Ein fataler Fehler, wie er letztlich erkennen musste. Während er im Gefängnis lediglich seiner physischen Freiheit beraubt wurde, versuchte man in der Psychiatrie seine Persönlichkeit zu brechen und in Fesseln zu legen. Die Einrichtung, ganz dem Wohlwollen der Gesellschaft verschrieben, entpuppte sich als faschistoid.
Mann kann über diese Geschichte nicht reden, ohne den Film von Milos Forman hinzu zu ziehen. Es ist einer der besten Filme, die je gedreht wurden. Und das kommt nicht von ungefähr, denn die eigene Geschichte des Regisseurs spielt in dieses Meisterwerk hinein. Forman kommt aus der ehemaligen Tschechoslowakei, wo er als Filmemacher (Der Feuerwehrball) schnell aufsehen erregte. Hollywood wurde bald auf Forman, den Nonkonformist im Realsozialismus, aufmerksam und lud ihn ein. Kirk Douglas hatte gerade die Filmrechte des Kesey-Buches erworben. Sein Sohn Michael sollte die Rolle des McMurphy übernehmen. Sie sprachen darüber. Forman zeigte sich interessiert und Douglas versprach, ihm das Buch zukommen zu lassen. Gesagt, getan, doch nichts geschah. Viele Jahre später, Forman war inzwischen nach Amerika ausgewandert, trafen Douglas und der Regisseur wieder aufeinander. Douglas wollte wissen, warum Forman sich nie gemeldet habe? Er hatte ihm das Buch, wie versprochen, geschickt. Was Douglas offensichtlich nicht wusste, es war nicht erlaubt, Druckerzeugnisse aus einem „nichtsozialistischen“ Land in den meisten Staaten des Ostblocks einzuführen. Der tschechoslowakische Zoll, oder besser der Geheimdienst, hatte das Buch konfisziert. Welche Ironie steckt doch in dieser Geschichte, angesichts des Inhalts diese Buches.
Es geht in diesem Buch, wie auch im Film von Forman um mehr, als um eine Klinik, die sich faschistoid geriert. Zudem ist das Problem der Gleichschaltung, der Gefügigmachung ein systemübergreifendes. Hat die Inszenierung von Simon Solberg diese Dimension deutlich machen könne und hat sie sie transportiert? Das muss in tiefster Überzeugung mit Nein! beantwortet werden. Der selbstbewusste Regisseur Solberg, der sich vermutlich selbst als ein exorbitantes Enfant terrible des Theaters versteht, hat aus der großartigen dramatischen Bearbeitung von Dale Wasserman eine postpubertäre Freakshow gemacht, in der „heftig Punk abging“.
Johannes Schäfer, Özgür Karadeniz, Justin Mühlenhardt, Jan Viethen © Arno Declair |
Im Programmheft zur Inszenierung kann der Theaterbesucher Auszüge aus dem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen“ von Manfred Lütz lesen. Die Passagen sind ohne Frage sehr aufschlussreich zum Problem Wahnsinn. Doch diese Zitate haben einen Mangel. Sie benennen die Hauptprobleme nicht wirklich, die gesellschaftliche Relevanz. Die spätbürgerliche Gesellschaft höchstselbst gebiert den Wahnsinn, fördert Selbstentfremdung, Sucht, Narzissmus und Gleichschaltung. In einer Gesellschaft, die sich ausschließlich durch ökonomisches Wachstum stabil erhält, ist nur der Konsument ein guter Bürger. Inwieweit ist der Konsument noch Mensch? Inwieweit hat hier die Gleichschaltung schon ihr zerstörerisches Werk geleistet? Nein, nicht der einzelne Nonkonformist ist das Problem für das System, sondern das bewusste Individuum, der Minderleister, der Aussteiger. Und diese sind nicht zwangsläufig auffällig. In Keseys Roman werden Menschen behandelt, die infolge ihrer von der Gesellschaft verursachten Selbstentfremdung sekundär Psychosen und Macken entwickeln.
Regisseur Solberg geht gegen die „Tyrannei der Normalität“ an. Das System an sich wird akzeptiert; er plädiert für Toleranz für des „Extraordinäre“. Das ist ein alter Hut, spätestens seit Konstantin Wecker sang: „Es müssen mehr Chaoten her! Dann wird es wieder menschlicher und nicht mehr so despotisch“: (Aus dem Gedächtnis zitiert.)
Chaos fand statt, und zwar geistiges. Ein ganzer Zitatenkatalog wurde aufgelistet, von Soaps über Action bis hin zu Insidermusic. Eine Plattitüde jagte lautstark und actionreich die nächste und auch die deutsche Bundesregierung wurde nicht verschont. Raps bürsteten Botschaften aus dem Bewusstsein und erhielten Szenenapplaus. Comedy allenthalben und die Schauspieler „ließen die Sau raus“. Das von Solberg sinnfällig gestaltete Bühnenbild, eine überdimensionale Gummizelle, wurde zum Schlachtfeld. Doch in dieser Schlacht gab es keine Gewinner, selbst wenn die Darsteller am Ende mit Tüten auf dem Kopf, auf denen das Konterfei McMurphys zu sehen war, in die Freiheit gelangten. Auch nur wieder ein neuer Fetischismus und in welche Freiheit? Doch nur in die altbekannte. Der Antispießer war auch nur ein Spießer. Das fühlt sich im Film, wenn Häuptling Bromden in den freiheitlichen Morgen geht, ganz anders an, in jedem Fall größer.
Über Geschmack kann man ja bekanntlich nicht streiten, und so soll auch kein Anlass zum Streit gegeben werden. Das Publikum war gespalten, sichtbar in jung und alt. Frenetischer Applaus stand Ratlosigkeit gegenüber. Das wird sich in den nächsten Vorstellungen sicherlich ändern, denn es wird sich schnell herumsprechen, dass im Volkstheater „der Punk abgeht“. Und die Nintendo-Generation wird sich das nicht entgehen lassen. Spaß werden sie ohne Zweifel haben.
Übrigens, am Vorabend „Die Perser“ in der Bayern-Kaserne – was für ein künstlerischer Gegensatz!
Wolf Banitzki
Einer flog über das Kuckucksnest
von Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey
Jean-Luc Bubert, Justin Mühlenhardt, Johannes Schäfer, Jan Viethen, Max Wagner Regie: Simon Solberg |