Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 1: Gervaise nach Émile Zola


 

 

Gervaise oder Abwärts

Émile Zola war schon frühzeitig von seiner literarischen Begabung und von einem unausweichlichen Erfolg als Schriftsteller überzeugt. Sein Leben verlief, obgleich er aus einer gutbetuchten Familie stammte, nicht frei von Höhen und Tiefen. Dreizehnjährig musste er nach dem überraschenden Tod des Vaters den finanziellen Ruin der Familie miterleben. Neunzehnjährig fiel er zweimal bei den Baccalauréats-Prüfungen (Abitur) durch und musste sich als Ungelernter auf dem Arbeitsmarkt begeben. Seinen ersten Job als Schreiber im Zollamt warf er bereits nach zwei Monaten wieder hin. In dieses Jahr (1860) fiel auch seine erste große Liebe. Das Mädchen hieß Berthe und war Prostituierte. Diese Beziehung wurde für Zola zum ersten sozialen Experiment, das an der harten Realität der Pariser Armenviertel scheiterte. Er versucht Berthe zur Arbeit und zu einem geordneten Leben zu motivieren, um sie aus der Lethargie ihres elenden Daseins zu befreien. Sieben Jahr später hatte Zola mit dem Roman „Thérèse Raquin“, die Geschichte einer Ehebrecherin und Mörderin im Pariser Kleinbürgermilieu, seinen literarischen Durchbruch. Das Buch avancierte wegen seiner ungeschönten Darstellung der Verhältnisse zum Manifest des Naturalismus. Als unermüdlich schreibender Journalist hatte Zola stets den Finger am Puls der Zeit. An Stoffen mangelte es nicht und sein literarisches und journalistisches Gesamtwerk ist schier unüberschaubar.

Drei Romane aus der Feder des großen französischen Romanciers werden heute noch gelesen: „Der Totschläger“ (1877) beschreibt das Schicksal einer Wäscherin und den Verfall ihrer Familie durch die Folgen des Alkoholismus im Pariser Unterschichtenmilieu. Im 1879/80 entstandenen Roman „Nana“ wird vom Aufstieg und Fall einer mit auffällig schönen körperlichen Reizen ausgestatteten jungen Frau berichtet, die sich zu einer kostspieligen Kurtisane entwickelt und am ausschweifenden und zügellosen Leben zugrunde geht. Der Roman „Germinal“ hingegen greift über persönliche Schicksale der Protagonisten hinaus und entblößt gesellschaftliche Mechanismen, die im Spannungsfeld eines dramatischen Bergarbeiterstreiks deutlich werden. Zola war ein sozial engagierter Bourgeois, dem die aufkommenden Lehren der Arbeiterbewegung bekannt waren und deren Ziele er durchaus guthieß.

Regisseur Matthias Günther hat aus dem Material dieser Romane eine Theaterserie entwickelt, deren Dramaturgie sich am Lebensweg einiger ausgewählter Protagonisten entlang hangelt. Der erste Teil erzählt von der Wäscherin Gervaise Macquart, die von ihrem Liebhaber Auguste Lantier verlassen wurde, nachdem sie gemeinsam zwei Knaben gezeugt hatten, Claude und Etienne. Gervaise ist eine fleißige und tugendhafte Frau, die plötzlich völlig mittellos ist. Verzweifelt und widerstrebend erliegt sie dem Werben des ehrbaren, aber auch leichtfüßigen Zinkarbeiters Coupeau. Sie bekommen eine Tochter namens Nana. Und da beide hart arbeiten, scheint ein gewisser Wohlstand greifbar zu sein. Gervaise träumt von einer eigenen kleinen Wäscherei. Als Coupeau einen Arbeitsunfall erleidet und Monate ans Bett gefesselt ist, schmilzt das Ersparte schnell dahin. Wieder genesen, findet Coupeau, der sich an das Nichtstun gewöhnt hat, nicht mehr ins Arbeitsleben zurück und wird Stammgast in der Schnapsbude Souvarines. Gervaise borgt sich Geld und mietet einen Laden an, in dem sie eine Wäscherei betreibt. Sie schafft es eine zeitlang, die Familie durchzubringen. Sohn Etienne geht zu dem befreundeten Preisboxer und Schmied Maheu in die Lehre. Als Coupeau eine Freundschaft mit Gervaises Ex-Liebhaber Lantier eingeht, wird das letzte Kapitel der Familie eingeläutet. Die Jungen werden zur Arbeitssuche aus dem Haus geschickt, nachdem Gervaises Geschäft in den Bankrott geschlittert ist, weil sie sich, ermüdet von der übermenschlichen Aufgabe, gehen ließ und ihre Kunden verlor. Sie beginnt ebenfalls zu trinken und sinkt auf das Niveau einen Straßenhure hinab. Die boshafte Nachbarin Virginie Lorilleux, mit deren Schwester sich Lantier dereinst aus dem Staub gemacht hatte, triumphiert über Gervaise. Die Ahnungslose wird das nächste Opfer des Parasiten Lantier und verliert alles. Nana wächst zu einem berechnenden und egoistischen Mädchen heran, das sich schon früh von Männern aushalten lässt. Das einstündige Drama im Werkraum endete damit, dass der betrunkene Coupeau, im Roman endet er in der Irrenanstalt, auf dem Tisch der Schnapsbude ein endloses Geheul anstimmte.

Matthias Günther testete diesen Stoff auf seine Tauglichkeit für das Theater im Heute und schnell wurde klar, er ist tauglich. In einem minimalistischen Bühnenbild von Sina Barbra Gentsch, bestehend aus zwei Biergartengarnituren und einer Toilettenzeile, agierten die Darsteller in z.T. prolligen Kostümen, wie man sie täglich im Privatfernsehen bewundern kann, wenn die als Talkshows getarnten Menschenzoos öffnen, in denen man die Unterprivilegierten der Gesellschaft ausstellt. Çigdem Teke gab überzeugend eine eingangs kämpferische, zuletzt aber erschöpft resignierte Gervaise. Edmund Telgenkämpers großer Zampano Lantier überzeugt schon durch seine Physis. Bei ihm reichen bereits Andeutungen, um Furcht erregend und einschüchternd zu wirken. Er repräsentierte den Typ Alphamännchen, das großmäulig ins Leben startet, alles bekommt, was er will, vornehmlich die empfängnisbereiten Schönen wie Virginie, Alina Stiegler als billige Kokette im Legginsdarm, und dann erbärmlich scheitert. Stefan Merki spielte einen unglaublich agilen und liebenswerten Coupeau, dem man seinen Verfall wegen seiner lebenslustigen und sinnlich überschäumenden Art nur schwer übel nehmen konnte. In ihm steckte eine gehörige Portion Opfer seiner selbst. Das Knabenpaar Etienne und Jacques, körperlich clownesk und stark überzeichnet in ihrer pubertären Geisteshaltung gespielt von Merlin Sandmeyer und Christian Löber, trugen enorm zur Erheiterung des Publikums bei. Als Schnapsbudenbesitzer Souvarine kommentierte Walter Hess die Vorgänge von durchaus moralischen Positionen herab. Oliver Mallisons zurückhaltender Preisboxer und Schmied Maheu brachte eine fühlbare Melancholie in ein Spiel, das eigentlich tiefe Trauer erzeugen sollte, es aber (Matthias Günther sei Dank!) nicht tat. Marie Jung hielt sich als „Lolita“ Nana vorerst noch zurück und deutete nur an, was in einer der kommenden Folgen hoffentlich noch erzählt wird.

Das einstündige Drama war ein verknapptes, rasant von einer Lebenssituation in die nächste springendes Kunstkonstrukt aus dichter, praller Sprache, das dem Publikum nicht mit Sozialstudien oder moralinsauren Gesellschaftsbetrachtungen auf den Leib rückte. Der Autor/Regisseur behandelte das Publikum als mündige Bürger, bei denen man voraussetzen konnte, dass sie die Parallelen sehen und ihre Schlüsse ziehen können. Nach diesem Abend drängte sich zum Beispiel die Frage auf: Kann es wirklich sein, dass der Mensch und auch die Gesellschaft sich in den letzten einhundertfünfzig Jahren so wenig entwickelt hat?
Man kann gespannt sein, wie es weitergehen wird. Der nächste Teil ist mit Etienne überschrieben und behandelt den Lebensweg der Kinder von Gervaise.

 

Wolf Banitzki

 

 


Schnapsbudenbestien Folge 1: Gervais

Eine Theaterserie nach Émile Zola

Walter Hess, Marie Jung, Christian Löber, Oliver Mallison, Stefan Merki, Merlin Sandmeyer, Alina Stiegler, Çigdem Teke, Edmund Telgenkämper

Regie: Matthias Günther

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