Werkraum La Somnambula nach der Oper von Vincenzo Bellini und Felice Romani
Bellini kurios im Werkraum
Vincenzo Bellini, 1801 in Catania (Sizilien) zur Welt gekommen, war die vollkommene künstlerische Entfaltung nicht vergönnt. Dreißigjährig hatte er mit „La Somnambula“ (Die Nachtwandlerin), in weniger als zwei Monaten komponiert, und mit „Norma“, im selben Jahr uraufgeführt, seinen stürmischen Durchbruch. Zwei Jahre später lebte er im Zentrum der europäischen Oper, in Paris, umgeben von bedeutenden Zeitgenossen wie Berlioz, Rossini, Donizetti, Meyerbeer oder Offenbach. Mit „Il Puritani“ (Die Puritaner) gelang Bellini 1835 ein letzter beachtlicher Erfolg. Am 24. September desselben Jahres verstarb er, nicht einmal vierunddreißigjährig. Das Libretto zu „La Somnambula“ stammte von Felice Romani (1788-1865), der annähernd 100 Libretti verfasste und nebenher französische Literatur in seine italienische Muttersprache übersetzte.
Die Geschichte von „La Somnambula“ ist in einem abgelegenen Gebirgsdorf angesiedelt, sichtbares Zeichen dafür, dass das Biedermeier Einzug hielt in die italienische Oper. Die schöne Amina und der wohlhabende Bauer Elvino wollen heiraten. Die Verbindung wird von Lisa, Wirtin der Dorfschenke neidisch missbilligt, da sie selbst in Elvino verliebt ist. Rodolfo, der neue Schlossherr trifft nach langer Abwesenheit im Ort ein, macht der schönen Amina augenblicklich den Hof und erregt so Elvinos Eifersucht. Amina, sie ist Schlafwandlerin, gerät in ihrer Umnachtung in das Gastzimmer Rodolfos, der im Wirtshaus von Lisa Quartier genommen hat. Dort wird sie von den Dorfbewohnern entdeckt und von ihrem Verlobten Elvino verstoßen. Die Versöhnungsversuche des Grafen fruchten nicht und Elvino ist fest entschlossen, Lisa zu ehelichen. Als auch diese Verbindung in Gefahr gerät, weil Lisa Treulosigkeit vorgeworfen wird, erscheint Amina erneut schlafwandelnd auf einem Dach und gesteht Elvino ihre Liebe. Es kommt zur Versöhnung und zur Hochzeit.
Bellinis Musik ist von außerordentlicher Sanftheit und Melodik. Volkstümliche Elemente und ein gefühlvoller Belcanto lassen die Oper im Lichte einer natürlichen Schlichtheit erscheinen, die sogar Richard Wagner beeindruckte. Die Rolle der Amina ist seit der Uraufführung in der Mailänder Scala Dank der Interpretation durch Giuditta Pasta eine Paraderolle für jeden lyrischen Koloratursopran. Dass der ungarische Regisseur David Marton nicht Bellinis Oper in ihrer ursprünglichen Form auf die kleine Bühne des Werkraums bringen würde, war vorauszusehen. Was er allerdings aus diesem Werk machte, überraschte in jeder Hinsicht. Glaubte man beispielsweise, das tradierte Rollenspiel von Schauspielern an den Münchner Kammerspielen und das Erzählen einer in sich geschlossenen Geschichte habe sich vorerst erledigt, am Uraufführungsabend wurden die Zuschauer eines Besseren belehrt. Soviel kann bestätigt werden: David Marton erzählte die Liebesgeschichte von Amina und Elvino annähernd so, wie es bereits Bellini und Romani taten. Doch Marton trieb zwischendrin seltsam verwirrende Spiele. So unterbrach Michael Wilhelmi das Spiel immer wieder, um dem Publikum eine krude physikalisch-metaphysische Theorie von der Liebe zwischen Mann und Frau zu vermitteln, die er allerdings nie wirklich endgültig durchdacht hatte. Nebenher faszinierte der studierte Mathematiker, Logiker und Philosoph mit einem furiosen und nahezu akrobatischen Spiel unterschiedlichster Tasteninstrumente und sogar eines Spielautomaten. Er verkörperte im Stück allerdings keine konkrete (Bellinische) Rolle, ganz im Gegensatz zu Paul Brody mit seiner Trompete. Er gab, englischsprachig oder aber durch seine Trompete virtuos sprechend, den Grafen Rodolfo. Der dritte Musikant im Spiel war Daniel Dorsch, der, wenn er nicht gerade Klänge erzeugte, wie ein Wiesel auf der Bühne herumfegte und dadaistisch alles, auch das nicht Vorhandene oder für das Publikum nicht Wahrnehmbare, dirigierte.
Hassan Akkouch, Jelena Kuljić, Yuka Yanagihara © Gabriela Neeb |
Jelena Kuljić brillierte nicht nur als Schauspielerin in der Rolle der immer wieder zurückgewiesenen Wirtin Lisa, sondern auch mit ihrem unter die Haut gehenden Jazzgesang. Als Lisa war sie der weibliche Gegenpart zu Yuka Yanagiharas Amina. Sie war genau die lyrische Sopranistin, die Bellinis Amina sein sollte. Darüber hinaus hatte sie wunderbare Momente differenzierten und anrührenden Schauspiels, beispielweise, als sie den Gesang ihres Geliebten Elvino, gespielt von Hassan Akkouch, mimisch durch die Scheiben eines Glashauses begleitete. Akkouch hatte seinen großen Augenblick in einer sehnsuchtsvollen Liebesszene mit einem Plattenspieler.
Christian Friedländers Bühne bestand aus einer Vorderbühne, die Gastraum, Konzerthalle und Spielfläche war. Rechts befand sich ein Glashaus, das einen Garten in sich umschloss und das ein Refugium der Jungfräulichkeit für Amina vorstellte. In einer anderen Szene wurde es allerdings auch zu dem sprichwörtlichen Glashaus, in dem man nicht mit Steinen werfen sollte, wenn man drinsitzt. Dahinter, quasi als zweite Etappe, befand sich der Tresen des Wirtshauses mit Spielautomat und ein Durchbruch in der Rückwand gab den Blick in das Gastzimmer, Wohnstatt Rodolfos, frei.
So variabel wie das Spiel der Darsteller, die sehr agil die Räume durchmaßen, war auch die Musik. Original Bellini-Oper aus der Konserve wurde von Klanginstallationen abgelöst oder von Improvisationen aufgelöst. Ein und dieselbe Arie wurde von Yuka Yanagihara im Belcanto gesungen, im nächsten Augenblick von Jelena Kuljić als Jazzvariante wiederholt. Michael Wilhelmi begleitete wohlanständig auf dem Flügel, auf der elektronischen Orgel oder auf dem Cembalo, löste die Melodien im nächsten Augenblick spontan auf, führte sie ins Klangchaos und wieder zurück in die bekannten Harmonien. Er durchsetzte lieblichste Melodien unerwartet mit absurd-komischen Dissonanzen. Es war schlichtweg eine Ohrenweide.
Und so, wie die musikalische und gesangliche Darbietung begeisterte, riss auch das Spiel der Darsteller mit. Eine Überraschung jagte die nächste. Eine Fülle von Regieeinfällen, überwiegend komischen, ließ die eine Stunde und fünfundvierzig Minuten wie im Fluge vergehen. Als sich das Paar schlussendlich in den Armen lag, brach frenetischer Applaus los. Völlig zu recht und hochverdient.
Wolf Banitzki
Opernhaus präsentiert: La Somnambula
nach der Oper von Vincenzo Bellini und Felice Romani
Hassan Akkouch, Jelena Kuljić, Yuka Yanagihara, Michael Wilhelmi, Paul Brody, Daniel Dorsch
Inszenierung: David Marton