Werkraum Sold Out von Gianina Cãrbunariu
Wer hätte gedacht, wie stark das Bedürfnis nach Aufarbeitung dieses Kapitels europäischer Geschichte jetzt, mehr als 20 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs ist. „Ich schätze, 90% der Besucher sind Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben“, so mein Nachbar im Werkraum der Münchner Kammerspiele, der seinen Akzent nicht verhehlen konnte.
Gianina Cãrbunariu, die 2007 mit „Kebab“ (ebenfalls im Werkraum) vom Elend osteuropäischer Mitbürger auf eindrucksvolle Weise berichtete, hatte mit „Sold Out“ ein Thema aufgegriffen, dass die westdeutschen Bürger einbezog in diese notwendige Bewältigungsarbeit, wobei der Focus allerdings weitestgehend auf ihren Landsleuten verblieb. Thema war der Verkauf von ausreisewilligen Rumänen deutscher Abstammung (auch erfundener) durch das Ceausescu-Regime. Dieser Ausverkauf hatte Methode. Wäre man böswillig, könnte man von Menschenhandel sprechen. Als böswillig würde vermutlich gelten, wer den Handelspartner erwähnt. Auf Seiten der Bundesrepublik verwahrt man sich dagegen, denn, wie Exaußenminister Hans-Dietrich Genscher betonte, es handelte sich um einen humanitären Akt. So erstaunlich verschieden können die Interpretationen sein, wenn die Wörter Menschenhandel und Humanität in einem Satz Platz finden. Und dennoch stimmte es.
Als 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, fand dieser Akt bei vielen Intellektuellen und Künstlern im Land Zustimmung. Offizielle Verlautbarung war: Wir müssen den Exodus der hochqualifizierten DDR-Bürger in den Westen stoppen. Das Land blutet aus! Das war für viele DDR-Bürger, die sich mit ihrem Land identifizierten, durchaus einleuchtend. Inzwischen weiß man, dass der BND und die Headhunter großer Unternehmen gezielt Abwerbung betrieben hatten. Ihre Aktivitäten dienten durchaus anderen Interessen, als der reinen Humanität. Es waren strategische Zielsetzungen in einem Krieg, im „Kalten Krieg“. Als Ulbricht schließlich sinngemäß verkündete: ‚Und jetzt werden wir an dieser Mauer jeden zerquetschen, der gegen uns ist’, war auch dem DDR-Bürger klar, dass der „antifaschistische Schutzwall“ nicht zu seinem Schutz errichtet worden war.
Das Rumänien Ceausescus war im Vergleich zur DDR beinahe so etwas wie eine Persiflage auf den real existierenden Sozialismus. Witze über die Herrscher dieses Landes waren an der Tagesordnung. Die politische Führung war von so ausgesuchter Dümmlichkeit und Durchschaubarkeit, dass man, wenn es nicht eine so traurige Wahrheit gewesen wäre, schallend hätte lachen können. Zum Beispiel über die Ehefrau Ceausescus, die sich selbst zur „Mutter der Wissenschaften“ ernannt hatte, die über die gesamte Wissenschaft Rumäniens regierte, selbst nur über einen Sechsklassen-Grundschulabschluss und eine dürftige Ausbildung zur Schneiderin verfügte, und die es unter normalen Umständen auf Grund ihrer Bösartigkeit und ihres Intrigantentums vielleicht bis zur Supermarktleiterin geschafft hätte.
Diese Menschen haben das Land Rumänien, das durchaus auf eine stolze Geschichte zurückblicken kann, in den Zustand schlimmster emotionaler und moralischer Verwahrlosung geführt. Gianina Carbunariu, stets darauf bedacht, ihre Thesen dokumentarisch zu belegen, beginnt in „Sold Out“ mit Deutschland. Der Sohn einer deutschstämmigen Familie in Rumänien verliest in der Uniform der Waffen-SS die Leitlinien zur nationalen und völkischen Identität aus Hitlers „Mein Kampf“. Er ist von Stolz erfüllt. Der Glaube an die deutsche Herrenrasse, er zählt sich dieser aufgrund seiner Abstammung zu, ist unerschütterlich. Er hat eine Puppe mitgebracht, eine deutsche, was man an der Qualität sofort erkennen kann. Diese Puppe wird zur historischen Klammer für die ganze Geschichte vom 2. Weltkrieg über die sowjetische Besatzung bis hin zu Ceausescus Schreckensherrschaft. Am Ende kehrt sie mit ihrer Familie „heim nach Deutschland“. Dieser dramaturgische Ansatz war ein überaus geschickter, denn durch die Puppe reflektiert die Autorin die Vorgänge unvoreingenommen, ideologiefrei, und deckt so die Absurditäten auf, die Betroffene zwar wahrnehmen, aber nicht benennen können, weil sie selbst darin verstrickt sind. Am Ende steht wiederum die Anbetung alles Deutschen. Das, wofür am Anfang „Mein Kampf“ stand, wurde am Ende durch das „FC-Bayern-Shirt“ ersetzt. So erlangten materielle und geistige Sehnsüchte Symbolcharakter. Dabei waren es nur Fetische.
Lasse Myhr, Sylvana Krappatsch, Lenja Schultze, Edmund Telgenkämper © Andrea Huber |
Gianina Cãrbunariu enthält sich eines letzten Urteils über beide Welten, enthüllt aber viele glaubhafte Details, die den Betrachter in tiefe Verunsicherung stürzten. Deutschland war an diesem Menschenhandel beteiligt, der per se verdammungswürdig ist. Mehr noch, dieser Handel ging in deutschen Auffanglagern für Auswanderer weiter, wo sich „schwarze Männer“ (Ceausescus Geheimdienstschergen oder einfache Kriminelle) gegen die Zahlung erheblicher Summen erboten, weitere Familienmitglieder aus Rumänien herauszuholen. Familien zerbrachen daran. Gutgläubige Menschen wurden betrogen und bestohlen. Als sicher kann wohl genommen werden, dass sich selbst im tiefsten emotionalen Elend noch ein Mensch findet, der daraus auf perfideste Weise Kapital schlägt. In dieser Einsicht liegt wohl die größte Leistung des Stückes begründet, denn die Beweislage darüber ist lückenlos.
Die Szenenfolge ließ gelegentlich Zielstrebigkeit vermissen. Die Schauspieler wechselten über die beschriebenen Zeiten hinweg die Rollen und hatten es somit nicht leicht, eindeutige Charaktere zu entwickeln. Heraus stach naturgemäß Hildegard Schmahl, die durchgängig als folkloristisch ausstaffierte Puppe agierte. Ihr Sprachduktus und ihre Körperlichkeit, die von Unabänderlichkeit geprägt waren, kontrastierte die (notwendiger Weise) chamäleonartigen Charaktere der anderen Darsteller. Edmund Telgenkämper als Familienoberhaupt und Lenja Schultze als Tochter hatten noch die besten Chancen zu eindeutiger Rollengestaltung. Sie zeichneten sich durch Gradlinigkeit in ihrem Lebensanspruch und relative Aufrichtigkeit ihrer Argumentation aus. Lasse Myhr, ihm waren einige Nebenrollen beschieden, brillierte als Spitzel und Kommilitone. Seine Argumente, dass sich letztlich jeder verkaufe, um an sein Ziel zu gelangen, offenbarten den psychologischen Hintergrund des Dilemmas. Sylvana Krappatsch, ihr fiel der weiblich-mütterliche Part zu, verlieh ihren Rollen gelegentlich einen Hauch von Verzweifelung, die dem instinktiven Drang zum Überleben entsprang. Michael Tregor gelang insbesondere als einer der Dunkelmänner eine Figur, die bei aller Gefährlichkeit durch die ihm verliehene Macht zuallererst Erbärmlichkeit erkennen ließ. In einer totalitären Diktatur kämpft schließlich jeder ums Überleben, selbst der Diktator, und dabei sind alle Mittel und Methoden gängig. Opportunismus ist erfahrungsgemäß noch immer das sicherste Überlebensmittel.
Der Abend war gewiss kein theatralisches Highlight im artifiziellen Sinn. Und doch war es eine sehr sinnvolle Veranstaltung, die auf aufklärende Weise ein Thema behandelte, das vermutlich nie so recht im Focus bundesdeutscher Betrachtung stand, obwohl es doch ein ureigenes ist.
Aus den gesellschaftlichen Erfahrungen lernen, erzeugt Hoffnung. Dieses Fünkchen Hoffnung fehlte mir in „Sold Out“. Dabei hätte ich es mir sehr gewünscht.
Sold Out
von Gianina Cãrbunariu
Sylvana Krappatsch, Lasse Myhr, Hildegard Schmahl, Lenja Schultze, Edmund Telgenkämper, Michael Tregor, Pollyester Regie: Gianina Cãrbunariu |