Werkraum Woyzeck / Wozzeck nach Georg Büchner, Alban Berg


 

 


Ästhetik mit Sinn

Büchners Woyzeck ist aus den deutschen und auch aus den ausländischen Spielplänen nicht mehr wegzudenken. Das Dramenfragment gehört mit Sicherheit zu dem Bedeutendsten, was an deutschsprachiger Dramenliteratur bisher geschaffen wurde. Fragt man nach dem Warum, so drängt sich eine Antwort in den Vordergrund: Woyzeck ist in seiner tiefen Tragik wohl eines der anrührendsten menschliche Wesen in der Literatur. Der einfache Soldat Woyzeck hat die Größe eines Prometheus’, nicht, weil er, abgesehen von einem Mord, eine bedeutende Tat vollbrachte, sondern weil er eine Offenbarung über das menschliche Wesen war und ist. Unter gesellschaftlichen Aspekt betrachtet, verkörpert Woyzeck die unterdrückte Kreatur an sich. Woyzeck ist der Archetypus der geschundenen Kreatur, die auf sein Menschsein nicht verzichten will.

Büchners Werk ist unzählige Male inszeniert und damit auch interpretiert worden. Man möchte meinen, aus diesem Stoff ist mehr nicht herauszuholen. Jetzt geht es nur noch darum, die ästhetischen Variablen auszuloten. Das ist wohl wahr und doch auch nicht, denn Büchners Text ist nicht so festgeschrieben, wie es scheint. Die gesellschaftliche Entwicklung, und dabei spielt die geschundene Kreatur noch immer eine bedrückend große Rolle, verändert auch Büchners Drama. Es will und muss stets neu interpretiert werden, denn es ist hilfreich zum Verständnis der jeweiligen Realität. Woyzeck ist das Fundament der menschlichen Existenz, von dem aus wir die Facetten des neuen oder auch modernen Menschen erkunden können. Woyzeck ist in uns allen. Es bedarf nur der entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Zuspitzung, und Woyzeck wird wieder sichtbar. Beispielsweise wenn in einer Arbeitsagentur eine Mitarbeiterin niedergestochen wird.

Auf den ersten Blick erscheint die Inszenierung des Büchnerschen Dramas durch die junge polnische Regisseurin Barbara Wysocka wie ein ästhetisches Experiment. Sie verquickte das Schauspielfragment Büchners mit der Opernfassung von Alban Berg. Dadurch gelangte sie auf den künstlerischen Interpretationslevel von Musiktheater, ohne dabei auch nur ein Quäntchen an Direktheit, von dem der Text schließlich so lange und so gut lebt, auszusparen. Die Inszenierung im Werkraum war recht aufwendig. Die Bühne (Teresa Vergho, Barbara Wysocka ) bestand aus einem Wasserbecken, umgeben von Laufstegen. Gespielt wurde vornehmlich im Wasser. Damit wurde das letzte Bild, Woyzeck tötet Marie am See und versenkt die Mordwaffe darin, bereits an den Anfang gestellt.
 
 Wozzeck

Marie Jung, Anno Kesting, Stefan Hunstein, Kristof Van Boven

© Julian Röder

 

Auf den ersten Blick erscheint die Inszenierung des Büchnerschen Dramas durch die junge polnische Regisseurin Barbara Wysocka wie ein ästhetisches Experiment. Sie verquickte das Schauspielfragment Büchners mit der Opernfassung von Alban Berg. Dadurch gelangte sie auf den künstlerischen Interpretationslevel von Musiktheater, ohne dabei auch nur ein Quäntchen an Direktheit, von dem der Text schließlich so lange und so gut lebt, auszusparen. Die Inszenierung im Werkraum war recht aufwendig. Die Bühne (Teresa Vergho, Barbara Wysocka ) bestand aus einem Wasserbecken, umgeben von Laufstegen. Gespielt wurde vornehmlich im Wasser. Damit wurde das letzte Bild, Woyzeck tötet Marie am See und versenkt die Mordwaffe darin, bereits an den Anfang gestellt.

Die Verbindung von Woyzeck (Büchner) und Wozzeck (Berg) schuf Janek Duszynski mit seinen Kompositionen. Die fast durchgängige musikalische Begleitung des Spiel wurden von den Musikern Tatjana Zivanovic-Wegele, Anno Kesting und Tobias Weber realisiert. Die Musik war zwar sehr prägnant, doch nie aufdringlich oder gar vordergründig. So recht ins Bewusstsein kam sie erst, als der Sänger Tobias Hagge die Texte des Doktors interpretierte. Barbara Wysocka vertritt bezüglich der Verquickung von Kunstformen die Ansicht: „An den Grenzen der Kunstformen entstehen die schönsten Qualitäten.“ Mit ihrer Inszenierung trat sie den Beweis an und überzeugte.

Ohne Frage war die Inszenierung ein ästhetisches Experiment, ein gelungenes wohlgemerkt, und doch ging sie darüber hinaus. Das verdankte sie in erster Linie der Interpretation der Rolle des Woyzeck durch Kristof Van Boven. In Büchners Drama haben wir es bei Woyzeck mit einem schlichten Gesellen zu tun, der, wie man heute sagen würde, einer bildungsfernen Schicht angehörte. So blieb Woyzeck nur seine Emotionalität, um die Realität (mit dem Bauch) zu begreifen. Er kann sich nicht differenziert artikulieren. Kristof Van Boven hatte ebenfalls nur den Büchnerschen Text, der sehr deutlich die intellektuellen Grenzen des Soldaten aufzeigt, doch seine körperliche Interpretation ging weit über diesen Text hinaus. Van Bovens Woyzeck war ein unter den „Schlägen des Schicksals“ vibrierendes Wesen voller Leuchtkraft. Der von den gesellschaftlichen Umständen zum „Vieh“ degradierte Mensch Woyzeck war in seiner Transparenz, in seiner Agilität, auf alles direkt reagieren zu müssen, ein schönes Wesen. Das unterschied diese Inszenierung über die Ästhetik hinaus von vielen anderen. Kristof Van Boven leistete Ungewöhnliches. Er wird mit dieser Interpretation ganz sicher im Gedächtnis der Zuschauer bleiben.

Marie Jungs Darstellung der Marie lebte von der natürlichen Unschuld der Figur. Sie, ebenfalls ein schlichtes Geschöpf, suchte einfach nur die schönen Momente im Leben. So erlag sie, ohne sich einer wirklichen Schuld bewusst zu sein, dem feschen Tambourmajor. Stefan Hunstein spielte den Macho nicht, sondern behauptete ihn. Und man glaubte ihm. Sein Lachen, seine Haltung, das Knöpfen seiner Uniform waren Rituale, die den Vorsteher der Musikkapelle zu einem selbsternannten, unerschütterlichen Gott hochstilisierten. Olliver Mallison gab den einzigen Freund Woyzecks, Andres. Mallison gestaltete nicht den seelenverwandten, mitleidenden Genossen, sondern einen Mann, den das Leben in dieselbe Reihe mit Woyzeck gestellt hatte. Er war den selben Schlägen ausgesetzt. Was liegt da näher, als sich im Leid zu verbünden. Dadurch wird es leichter. Mallisons Andres zeigte nur begrenzt Mitgefühl, gab sich nicht selbst auf und forderte auch schon mal sein Recht auf sich selbst ein. Diese Sicht auf die Figur war sehr wohltuend, liegt doch besonders hier die Neigung zum säuselnden Kitsch nahe: „Ich hat einen Kameraden, ...“

Stefan Merkis Hauptmann war gleichsam nicht nur auf den tumben Militär reduziert, der die blödsinnigsten Theorien ausschwitzen darf, nur weil sein Dienstgrad und -rang keinen Widerspruch duldet. Es war ein Mann, der zwar Angst vor Hast hatte (Was sollte er mit der gewonnen Zeit schließlich auch anfangen?), der bei Merki aber dennoch ein Umtriebiger war. Das verlieh der Figur etwas Unentschiedenes. Allzu oft wird diese Figur, auch um die Komik zu forcieren, sehr zweidimensional angelegt. Nicht so in dieser Inszenierung, die der Figur mehr Raum als üblich gab. Gleiches galt für Tobias Hagge, der den Doktor stimmgewaltig und mit starker physischer Präsenz gestaltete. Gern lockern Regisseure die Schwere des Stückes mit diesen beiden Rollen auf. Doch wenn man sich ernsthaft dem Wesen des Menschen Woyzeck nähern will, sollte man dabei nicht vergessen, dass auch diese beiden Figuren menschliche Wesen sind und respektiert werden wollen.

Barbara Wysockas Inszenierung im Werkraum ist unbedingt sehenswert. Es ist ein gelungenes ästhetisches Experiment, das allerdings nicht selbstgefällig in der Pose der Andersartigkeit verharrt, sondern wirkliche interpretatorische Neuansätze liefert. Es war ein künstlerisch fruchtbare Arbeit, die den Machern zur Ehre gereicht.
 
 
 
Wolf Banitzki


 


Woyzeck / Wozzeck

nach Georg Büchner, Alban Berg

Fassung von Barbara Wysocka und Koen Tachelet

Tobias Hagge, Stefan Hunstein, Marie Jung, Anno Kesting, Oliver Mallison, Stefan Merki, Kristof Van Boven, Tobias Weber, Tatjana Zivanovic-Wegele


Regie: Barbara Wysocka