Kammerspiele Platonow von Anton Tschechow


 

 

Wiedererkennung: mangelhaft

In den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand in Russland ein Werk, das heutzutage nur noch wenigen Lesern bekannt ist. Es ist der Roman „Oblomow“ von Ivan Gončarov. Dieser Text ist ein Schlüsselwerk des russischen Realismus und wurde zum Namensgeber einer epochalen Lebenshaltung – „Oblomowtum oder Oblomowerei“. Im Zentrum steht der russische Adlige Ilja Oblomow, der infolge falscher Erziehung und mangelnder Selbstdisziplin lebensuntüchtig wird. Seine idealistischen Träume, die zunächst an Bildung und Tätigkeit orientiert waren, verkümmern zur lethargischen Trägheit. Anstelle der Tat tritt die Rede über die Tat und die Rede über die eigene Unfähigkeit zur Tat. Ein Resultat aus dieser Haltung ist Liebesunfähigkeit.

Schaut man sich nun Tschechows frühes dramatisches Fragment „Platonow“ an, liegt der Schluss nahe, dass es unter dem Eindruck des „Oblomow“ entstand. Wenn nicht, so zeigt es doch, dass der 18jährige bereits die ausgeprägte gesellschaftliche Sensorik eines gestandenen Schriftstellers hatte. Wie auch in allen späteren Werken ist ein wichtiger Aspekt die dekadente Haltung des untergehenden Adels und des dazugehörigen Trabantentums. Nicht die Tat ist Gegenstand, sondern das Lamento über die Unfähigkeit zur Tat, die aus einer tiefgehenden Visionslosigkeit trotz aller Bildung und aller Ideale resultiert. Tätig ist nur das Geld und deren Lemuren. So wechseln die Güter am Ende immer in die Hände des weitestgehend idealefreien und ungebildeten (im Sinne von Herzensbildung) neureichen Bürgertums. In diesem Sinne könnte man beinahe sagen: Ein zeitgenössisches Stück!

„Platonow“ erscheint dem Betrachter auf den ersten Blick wie eine Vorarbeit zum „Kirschgarten“. Das Fragment ist breit, zu breit angelegt, nicht selten geschwätzig - aber doch immer wieder verblüffend im Detail. Die Lakonik der dramatischen Wendungen und des Wortes zeigen eine gereifte Begabung des späteren Weltdramatikers. Allein, vom Format des „Kirschgartens“ ist „Platonow“ weit entfernt.

Den Inhalt des Dramas umreißen zu wollen, wäre an dieser Stelle verfehlt, da, wie bereits erwähnt, die Geschichte in ihrer Personage sehr breit angelegt ist. Nur soviel: Platonow ist ein Dorfschullehrer, ein früh gescheiterter Idealist, Faulpelz und einer, der den Verlockungen der Weiblichkeit nicht widerstehen kann. Obgleich „noch immer, ein wenig, vielleicht verheiratet“, schlägt er kein Angebot zur sexuellen Inbesitznahme aus. Seine Ehefrau Alexandra Iwanowna, genannt Sascha, zerbricht daran. Anna Petrowna Wojnizewa, Genaralswitwe und hochverschuldete Eigentümerin des Gutes, das gleichsam Spielort ist, liebt Platonow vorbehaltlos. Am Ende tötet sie ihn. (So geschehen in der Vorlage von Tschechow.)
 
   
 

Thomas Schmauser

© Andreas Pohlmann

 

 

Regisseur Stefan Pucher las das Stück unter dem Aspekt menschlicher Verhaltensweisen, wie sie in ihrer Zeitlosigkeit auch auf uns überkommen. Das bedeutet, er suchte die Parallelen zum heutigen Menschen, um, wie es die Werbung der Kammerspiele beschreibt: „ (...) den Zuschauern den Spiegel vorzuhalten.“ Das impliziert zumindest erst einmal, dass ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse einigermaßen egal sind, denn die unterscheiden sich in ihrem Wesen deutlich von den heutigen. Tschechow beschreibt den Untergang einer ganzen gesellschaftlichen Schicht, die heute unter dem Aspekt ernsthafter Betrachtung nur noch clowneskes Gazettenfutter ist. Außer der Symptomatik der siechen Gesellschaft ähnelt sich kaum etwas. Aber gerade darin besteht die Modernität des Stückes. Allerdings könnte man das auch von einem Euripides-Stück sagen.

Was Stefan Pucher schließlich auf die Bühne brachte, beschrieb die Werbung mit zwei Sätzen sehr treffend: „Es häuft sich etwas an in dieser überhitzten Atmosphäre der Geselligkeit, bis irgendwann der Gipfel der Beleidigungen erreicht ist. Alles bis zum Gehtnichtmehr.“ (Website der Münchner Kammerspiele) Wie im antiken Drama bedeutet „bis zum Gehtnichtmehr“ den Tod und die damit einsetzende Katharsis. Die bleibt in jedem Fall aus in den Münchner Kammerspielen. Der Grund ist ein einfacher. Stefan Pucher macht das Publikum zum Gegenstand seines Spiels: „Diese aufgetakelten Lachnummern sind wir, nur dass wir das nur schwerlich wahrhaben wollen.“ (Website der Münchner Kammerspiele) Da der normale Zuschauer einigermaßen unbedarft und offen ins Theater geht, würde er darauf gar nicht kommen. Auch fordert die Inszenierung dies nicht zwingend ein. Also sei es ihm, dem Zuschauer, hiermit explizit noch einmal gesagt.

Nina Wetzels Bühne glich dem Areal um einen Swimming Pool einer noblen Villa, weißer Kies, der Pool und einige weiße Plastikmöbel. Im Hintergrund der Bühne zwei Ausschnitte, die für Videoprojektionen dienten. Jede Ankunft einer Person ging mit dem Vorbeifahren einer S-Bahn vonstatten. Der visuelle Effekt wurde vom Publikum hörbar honoriert. Die Landschaft dahinter war trist, indifferent und öde. Über die Kiesfläche, die den gesamten Bühnenraum bedeckte, schlurften nun die kraftlosen, der Langeweile ergebenen Personen. Die Gangart war schleppend, scheinbar immer am Rand der vollständigen Erstarrung. Es wurde getrunken, geraucht, gebadet und zähflüssig Konversation betrieben. Einzig ein Geschlechtsakt rührte am Rhythmus der Agonie. Man teilte Bösartigkeiten aus, bezichtigte sich selbst und gegenseitig und verfolgte dabei kein Ziel.

Stefan Pucher hatte den Platonow mit Thomas Schmauser besetzt, einem Schauspieler, der auf besondere Weise kapriziös und manieriert spielte. Das machte ihn für eine gewisse Zeit interessant, bald aber kannte man die gespreizten Hände, das leidvolle Zusammenfallen in einen fast embryonalen Zustand, das schnelle in sich Gekehrtsein und hoffte darauf, den Text bald wieder akustisch verstehen zu können, um den Faden nicht zu verlieren. (Mich begann sehr früh die Vorstellung zu verfolgen, und dafür bitte ich um Entschuldigung, ich sehe einen sturzbetrunkenen Jens Harzer.)

Wichtigste Mit- oder Gegenspielerin war Sylvana Krappatsch als Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa. Auch sie ist in ihrer Physis eine Darstellerin, die zur Expression neigt, doch weit weniger hingebungsvoll auf den äußeren Effekt bedacht. Ihr Grundgestus war wie zäh tropfender Honig, begehrenswert und doch von abschreckender Klebrigkeit. In ihrer harten Stimme schwang selbst dann, wenn sie von Liebe sprach, Resignation und Zynismus mit. Über die anderen Darsteller gibt es wenig zu sagen. Sie gestalteten allesamt auf hohem Niveau. Doch ihre Rollen ließen kaum ein Profil zu, dass mehr hinterließ als die Spuren im weißen Kies. Das ist vermutlich die bedeutendste Schwäche der dramatischen Vorlage.

Die eigentliche Schwäche der Inszenierung lag in dem Versuch, eine Gesellschaft als Spiegelbild zu inszenieren. Wohl die wenigsten Zuschauer waren sich klar darüber, dass sie sich selbst sehen sollten. Schon bald wurde deutlich, dass dieses Drama kein wirkliches Ziel hatte. Der Tod des Protagonisten, so abscheulich oder bedauernswert dieser auch sein mag, kann nur eine Etappe sein. Es fehlte der Ansatz zur Identifikation, die es dem Zuschauer ermöglichte, über die Geschichte hinaus zu gehen. So blieb der Betrachter, der sich eigentlich als Gegenstand der Geschichte sehen sollte, außen vor. Er erlebte eine wohltemperierte und langatmige seelische Apokalypse.

Wolf Banitzki

 

 


Platonow

von Anton Tschechow

Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Katharina Marie Schubert, Peter Brombacher, Lasse Myhr, Tabea Bettin, Walter Hess, Wolfgang Pregler, René Dumont, Thomas Schmauser, Lena Lauzemis, Stefan Merki

Regie: Stefan Pucher
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