Werkraum XY Beat von René Pollesch

 

 

 

 
Es übertyrannt den Tyrannen
 
In einem fliederfarbenen Bühnenraum (Bert Neumann), der eine Disco mit Mittelpodest und Pole Dance Stange vorstellen soll, wendete sich Fabian Hinrichs unmittelbar ans Publikum. Untermalt von spastischen Bewegungen erklärte er mit einer stakkatotaften Sprache, worum es an diesem Theaterabend gehen sollte. Er propagierte das Bemühen aller Beteiligten, einen meinungsfreien Abend zu gestalten. Stattdessen sollte Klatsch geboten werden, denn der Klatsch ist die „letzte materialisierte Waffe gegen die Meinung“. Zugegeben, wen nervt es nicht, dass heutzutage jeder Mitbürger gefragt oder ungefragt zu jedem möglichen und auch unmöglichen Thema seine Meinung kund tut? Schon Heimito von Doderer definierte Meinungen als „Hämorriden des Geistes“. Aber kann Klatsch ein sinnvolle Alternative sein? Wohl kaum, und so gestaltete sich der Abend als ein Versuch, auf hohem intellektuellen und niedrigen künstlerischen Niveau Sinnlosigkeit zu erzeugen. Tatsächlicher Sinn der Veranstaltung war es wohl, das Publikum mit einem Grad der Verblödung zu konfrontieren, der kaum noch zu unterbieten ist. Gemeint waren natürlich nicht die anwesenden Mitbürger, denn Anwesende sind ja bekanntlich immer ausgeschlossen.
 
Katja Bürkle, Silja Bächli, Benny Claessens und Fabian Hinrichs schlossen sich zu einer im Klatsch geeinten Hausgemeinschaft zusammen und belästigen einander mit Wahrnehmungen, Vermutungen, Spekulationen und Offenbarungen. In kimonoartige Kitteln geschürzt (Kostüme: Nina von Mechow), spulten die Darsteller, die eigentlich zu den Besten ihrer Zunft im Land gehören, scheinbar planlos und gelegentlich auch rotzig-beiläufig Geschichten ab. Die konnten allerdings als solche nicht begriffen werden, da die Akteure sich nur in Andeutungen ergingen, die – nein, nicht anarchisch, sondern chaotisch eingeworfen wurden. Und wie Einwürfe klangen die Texte von Pollesch, da sie derart überhastet und brüchig auf das Publikum abgeschossen wurden, dass der Souffleur zu einer wichtigen Hauptperson avancierte. Das ist wahrlich kein großzügiger Umgang mit den Mitteln der Kunst, vielmehr ein dilettantischer. Die Formlosigkeit sollte hier als Tugend verkauft werden und war dabei doch nur ein Akt der Zerstörung. Die offene Spielsituation (Bier wurde an die Zuschauer verteilt, die Darsteller setzten sich wahllos ins Publikum) war ein bewusster Akt des Niederreißens der vierten Wand. Heraus kam eine Distanzlosigkeit, die jeglichen Zauber, den Theater schließlich erzeugen sollte, im Keim erstickte. Es entstand keine Form der Darstellung, sondern lediglich eine altbekannte Banalität des Seins, die wenig inspirierend war.
 
Es ist kaum zu glauben, dass Pollesch selbst diese Unzulänglichkeiten nicht als Manko sondern als künstlerischen Vorzug begreift. Immerhin entstand beim Betrachter der Eindruck, diese spießige Tristesse eines kleinbürgerlichen Affrontdenkens werde mit intellektuellen Attitüden kaschiert. Peinlich waren zudem Einschätzungen wie die über Peter Stein, dessen Werk und Existenz mit dem Wort Faschismus in einem Satz genannt wurden. Diese Art der Überwindung von Übervätern ist schlichtweg pubertär.
 
Die Alternative zu Meinungen können nur auf humanistische Werte gestützte Anschauungen sein. (Warum nur habe ich das Gefühl, ich müsste mich für diese, meine Anschauung entschuldigen?) Aber philosophieren strengt bekanntlich an. Und warum auch, wenn man geistigen Ausfluss unwidersprochen zur Kunst erklären kann. Dabei wäre das Theater ein guter Ort für derartige Übungen. Statt dessen ergeht man sich in dem Versuch, den alltäglichen Schwachsinn zu unterbieten, um ihn sichtbar zu machen. Mit mäßigem Erfolg, wie die letzte von Fabian Hinrichs erzählte Geschichte über ein drogensüchtiges Popsternchen, das wegen HIV-Verbreitung vor Gericht landete, beweist. Was wollte der Autor/Regisseur mit dieser sozialkitschigen Plattitüde erreichen? Mehr als eine betroffenheitsschwangere Meinung konnte dabei nicht herauskommen. Shakespeare hätte sich selbst angesichts dieses als Theater getarnten Angriffs auf den geistigen Zustand der Gesellschaft, also auf uns, wohl breitgrinsend zitiert: „Es übertyrannt den Tyrannen!“
 
 
Wolf Banitzki

 

 

 


XY Beat

von René Pollesch

Katja Bürkle, Silja Bächli, Benny Claessens, Fabian Hinrichs

Regie: René Pollesch