Sommergedanken
Kunstwerk Mensch
In den, in der Renaissance entstandenen Portraits wird die Idee vom Menschen erstmals deutlich erkennbar. Die Realisierung fand äußerlich durch die Verbindung von naturgegebener Schönheit und kultivierter Erscheinungsform statt. Die Verwirklichung durch die Gestaltung des inneren Wesens mittels aufklärende Wissensbildung und selbsterkennende Haltung strahlt aus dem Lächeln und den Augen der Portraitierten. Der Prozess der lebendigen Spiegelung füllte den Raum zwischen den gleichermaßen natürlichen wie kultivierten Elementen auf beiden Seiten der Leinwand. Diesen nachzuvollziehen gelingt jedem unvoreingenommenen Betrachter, auch noch hunderte Jahre nach der Entstehung. Besonders angesprochen fühlen sich jene, die in Zeiten von doktrinärer Manipulation, wie es derzeit die Medien oder die Technik mit der Massengesellschaft vollführen, den Schlüssel für den nächsten Schritt zu Entwicklung suchen. „Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht.“ (Ludwig Börne)
In dem multidimensionalen Prozess der Natur entstanden über einen, mittlerweile ziemlich exakt berechenbaren Zeitraum unzählbare Erscheinungsformen des Lebendigen. Die Wandelbarkeit im Prozess des Werdens und Vergehens ist es, die das Lebendige auszeichnet. Je vielfältiger eine Spezies angelegt ist, umso umfassender ist ihr Einfluss auf die unmittelbare Umgebung. Eine dieser lebendigen Kreaturen ist die Spezies Homo.
Menschsein, das ist die Summe der Eigenschaften und Fähigkeiten, inklusive der tierischen Natur, die das Wesen des Menschen ausmachen und die er durch Persönlichkeit zu freiheitlich kultivierter Humanität entwickelt hat. Ein Prozess mit vielen Versuchen, ebenso vielen gescheiterten wie gelungenen, der von Kultur und Kunst begleitet und gefördert wird. Ohne Visionen, also traumhafte Vorstellungen und Bilder in der Seele, gibt es keine Kunst. Ohne Kunst verläuft die Entwicklung des Organismus Homo in reine pragmatische Natur, heute auch in ökonomische oder technische Mechanismen.
Kultur, die Gestaltung von Natur ist deren Weiterführung zu einem bestimmten Zweck, dem des Überlebens einer Gemeinschaft oder sei es auch nur die Anhäufung von berauschender Schönheit. Die zu diesem Ansinnen erfasste Natur birgt sowohl die Schönheit, wie sie gleichermaßen auch den Existenzkampf veranschaulicht, dessen Regeln immer wieder neu überdacht und aufgestellt werden und doch die selben stets sind. Ein Sprung über den Schatten Kreatur wäre der tatsächliche Beginn humaner Kultur. Und in diesem Umfeld erst begänne der Mensch. Die Kultur wirkt auf eben diesen Raum verbindend und entwickelnd in Gemeinschaft. Das Ideal verbindet, dennoch steht es über und bislang nur teilweise zwischen den Kreaturen.
Die Kunst, der gestaltende Gedanke im eigenen bildenden Schaffen, macht in seinem Umfang den Unterschied zwischen der tierischen Natur, dem Organismus und dem Menschen. Das, über das Maß der Masse hinausgehende Schaffen von außergewöhnlichen Werken obliegt dem Künstler, das Erkennen von Zusammenhängen dem Wissenschaftler. Der, dessen Werke besondere zeitlose Aufmerksamkeit erfahren, erfährt fast Unsterblichkeit durch die Beachtung seiner Werke und die Pflege seines Namens über einen langen Zeitraum.
Beständigkeit in Entwicklung, die Verbreitung und Aneignung von fremder Erkenntnis, sowie deren Pflege und Weiterführung in neue Erscheinungsformen kann als eine Hauptaufgabe im Dasein eines Menschen angenommen werden. Vom Erbe der Eltern über die Lern- und Lehrzeit bis zum Zufall spielen viele Komponenten zusammen. Die Gesellschaft, ihr verbaler Tenor, prägen ebenso nachhaltig die Homos einer Zeit, die für oder gegen das scheinbar vernünftige Modell und deren Leitgedanken in einer aktuellen Lebensform, Ideologie auftreten. Die Versuche den Vorgang der Lebendigkeit in seiner Komplexität zu erfassen und leiten, scheiterten bislang immer durch auflösende Gewalt. Es ist die Ohnmacht, die der Macht gegenübersteht und das Kräfteverhältnis kippen lässt. Krieg folgt auf Krieg, Aufbau auf Zerstörung auf Aufbau.
Am Theater werden jeden Nachmittag die Kulissen neu für den Abend aufgebaut, um am nächsten Vormittag wieder abgebaut zu werden. Allein man tut dies sorgsam, sucht die Materie zu erhalten, verschont die tätigen Mitarbeiter. Für Abwechslung sorgt das Programm indem die unterschiedlichen Werke in einer Reihe stehen, die beliebteren öfter genannt, andere gelegentlich. Derzeit unterwerfen sich viele dem Konzept der Quote, der Zeitgeist- und Interessensquote, wie in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Ausgrenzung, Vernachlässigung, Bequemlichkeit machen sich breit, füllen die Räume der Mittelmäßigkeit, die sich in einem anderen Bereich selbst zum Maß der Dinge erklärt hat. Trägheit des Geistes in ausgetretenen Pfaden auf immer derselben Ebene, so könnte der daraus folgende Alltag vieler benannt werden. Bewegung, frischer Wind täte Not, die Kulissen umzugestalten, aufklärendem Spiel Platz zu bieten, hoffend, dass dies umfassend sanfte Veränderung verursacht. Es hat schon funktioniert, wenn die Bildung der treuen Götter den Bildungsdünkel der Eingebildeten entlarvte.
„Gute Leute bekommen gute Jobs.“, sagte ein Intendant der ehemals klassisch orientierten Traditionsbühne Münchner Kammerspiele. Und ganz diesem Tenor folgend, legt er Wert auf die Bühne als Wohlfühlzone für die Schauspieler. Das sind heute gängige Schlagworte für gute Schlagzeilen und von guten Schlagzeilen abgelesen, und somit Quote versprechend. Wer wagt zu widersprechen, ist Wohlfühlen wohl eines der meistgenannten Worte, gleich nach, oder im selben Atemzug mit Gefühl. Hier wabert die Masse, emphatisch zeitgleich den Raum zwischen den zunehmend abstrakten Strukturen füllend, überfüllend. Die Vorstellung von einer Masse gefütterter Organismen im Reagenzglas tut sich auf. Auf der anderen Straßenseite im Residenztheater, wagte es eine Schauspielerin die zum Text passenden Emotionen bis zum abstoßenden Exzess zu äußern, das, sich befreiende entblößte Gefühlstier hervorzukehren, geradezu beispielgebend sich hervorzutun. Alles nur Spiel, nur Spiel in dieser Zeit, in der Form und Inhalt oft vergeblich nach adäquater Übereinstimmung suchen. Aus dem Gleichgewicht geraten sind die ehemals natürlich kultivierten Persönlichkeits- und Umgangsformen. Grenzen wurden aufgelöst, verschoben, ohne dass neue gesetzt wurden. Was entstand ist keinesfalls grenzenlose Freiheit, höchstens Unkultiviertheit, Respektlosigkeit, Mangel an grundlegenden Umgangsformen. Denn in diesem Bereich kippte ein, in den letzten Jahrhunderten gepflegtes, Kräfteverhältnis zwischen Verstand und Gefühl einerseits innerlich, zwischen Haltung und Ausdruck andererseits äußerlich. Die glorifizierte Ich-Kultur der vergangen Jahre beginnt immer abstrusere Verhalten hervorzutreiben, simple Triebsteuerung vorweg.
Selbstdarstellung ist eines der Lieblingsthemen und findet in Milliarden Selbstabbildungen im Datennetz Bestätigung. Ich da, da, Ich, da Ich. Das Maß der zunehmenden Masse bestimmt auch den einzelnen, sich dem zu entziehen, fällt schwer und ist bisweilen unmöglich. Die Tussen- und Typenkultur der flimmernden Medien, die als Vorbilder vor den Augen der Fernsehzuschauer die Zeit mit Morden totschlagen, und über die Masse der mit ihnen verbrachten Zeit auch die Ansätze zu Persönlichkeitsbildung in den Trägen oder vom Tage Ausgebrannten meucheln. Hier wie auch aus den Modeaufnahmen und Fotos leuchtet ein Übermaß an selbstgefälliger Verliebtheit, ein massiv manipuliertes Wesen im Wettbewerbsmodus des tierischen Konkurrenzverhaltens sucht Aufmerksamkeit. Es drängt in den Vordergrund zwischen kunstvoll drapierten Stoffen und wohlgeformten nackten Gliedmaßen im Scheinwerferlicht vor der exakt alle Details erfassenden Kamera.
Das Design, die Überbewertung der Form oder eine zeitgemäße Ausdrucksweise, die mitunter mit dem Manierismus verglichen werden kann, dominiert Kreatur, Kultur und Umfeld im Heute. Der auf Höflichkeit programmierte dienende Roboter ist das absolute Kunstwerk dieses Zeitgeistes. Auf ihn fokussieren sich Aufmerksamkeiten aus vielen Bereichen, als wäre er Lösung der unzähligen anstehenden Probleme und ist doch nicht mehr als Ablenkung von diesen. „Die Masse hat immer recht.“(Elias Canetti)
Das Vergöttern wurde nun seit Menschengedenken trainiert, es ist zum Bestandteil der menschlichen Natur geworden. Von den tönernen Götterfiguren der Steinzeit bis zum Schöpfergott der monotheistischen Glaubensprinzipien, und schließlich bis zum Mensch genannten, der sich hervortut vor die Masse der Applaudierenden, der Huldigenden, der Anhänger, prägt das Vergöttern die menschliche Gesellschaft besonders. Diese schöpferische Kraft wurde in den unterschiedlichen Zeiten mit zahllosen Namen benannt, beschrieben in vielen vielen Werken, immer wieder neu definiert. Nun ist eine Zeit der irdischen Götter angebrochen, jener Vorbilder auf den Bühnen und in den Medien, die mit massiver massiger Aufmerksamkeit bedacht, gefeiert werden.
Doch was, wenn diese modernen Götter unverhältnismäßig in die tierische Natur zurück fielen, ohnehin kaum mehr als abgenutzt Alltägliches hervorbringend in der Wiederholung einer Wiederholung, oder sich gar durch die Zerstörung eines Kunstwerks hervortun? Diese Dekadenz kann bis zu einem Punkt als Kunstform bezeichnet werden, bevor sie als Zerfall erkannt wird. Doch was, wenn sie die einzige umfassend wahrgenommene Form bleibt in einer überwiegend medialen Welt? Einfalt dominierte eine einfache Welt in der die Tiernatur haust. Es watschelt über die Bühne des Berliner Theaters, den Pinsel im Po, und agiert stolz wie ein Hahn am Misthaufen, mit Überblick auf die Hühner im Gras des Zuschauerraums. Oder, es verharrt die Ewigkeit des Tages vor einem bunten Bildschirm um sich der Technik anzubiedern, zu unterwerfen. Die Metamorphose des „Missing Link“ (Konrad Lorenz) in den Cyborg kann bereits jetzt als geglückt betrachtet werden.
Ihr Denken und Handeln folgt den digitalen Programmen, die von Tausenden in derselben Weise genutzt werden. Massenformierung auf subtile Weise verbreitet, wird kaum als solche erkannt und bildet doch die Grundlage dieser neuen Spezies. Ihre im Dauereinsatz befindlichen überforderten Nervenverbindungen verhindern die Fortführung von alten Ritualen, das Erkennen ihres Sinns, und lassen oft eigene Bildentstehung gar nicht mehr zu. Das Abstrakte rückt immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses, grenzt das Lebendige zunehmend aus. Der Algorithmus übernahm die ehemals wortgesteuerte Handlung, sowie er die Bildentstehung in der Psyche auslöscht. Damit verschwindet die schöpferische Fantasie aus den Gehirnen und was bleibt sind simple Kreationen, Vermischungen von bereits bekannten Modulen in praktisch nützliches Design. Die Funktionalität in den Mittelpunkt zu rücken, sie als erstrebenswert zu glorifizieren, ist nichts weiter als ein fehlgeschlagener Versuch, alte Rituale zu ersetzen und der Leere, die sich hinter Allem auftut, zu entfliehen. Allein Körper, Geist und Psyche klammern sich an jede Möglichkeit, wie es bis jetzt in der Geschichte des Homo üblich war.
Entwicklung wurde immer in gewaltsamer Weise durchgesetzt, doch mittlerweile verfügt der Homo über deutlich mehr Wissen und Möglichkeiten zur Gestaltung als noch seinen Vorfahren vor fünfhundert oder gar dreitausend Jahren. Wird er diese im Sinne seines Wohles zu nutzen verstehen, darzustellen, oder bleibt es ein Versuchsstadium an dessen Ende das Ende steht? Denn wie sollte ein Cyborg in der Natur überleben, wenn er zwar die Bausteine ihrer Erscheinungsformen definieren und neu verbinden kann, doch bei einem Stromausfall in sich zusammenfällt? Spätestens dann fällt auch der Pinsel aus dem Po und der Hahn schafft keinen Strich mehr auf eine Leinwand.
Schockieren mit blutig-unblutigen Horror-Vorstellungen pflegt seit jeher die Gefühls- und Gedankenwelt um Hässlichkeit, Furcht und Angst. Nicht minder bedeutsam als die heitere Harmonie ist sie ebenso Kulturspektrum in dem experimentiert wird. Zerstören von Illusionen, krass Aufsehen erregen, irren Größenwahn zelebrieren, und neuerdings auch die Freilegung körperlicher Intimität gehören zum Tagesgeschäft in diesem Kunstbetrieb. Fans gab und gibt es dafür ausreichend, die mit wohlig kaltem Schauer, Zerstückelung, Kinderkitsch und Obszönität Identifizierungsmodelle und Unterhaltung finden. Alles was nur lange und oft genug lautstark verbreitet wird, formt und prägt den Homo zu differenzierter Art.
Die Auflösung, Sezierung der, bis in die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts verspießerten Formen des guten bürgerlichen Lebens war die große Aufgabe zum Millenium. Diese erfüllte vornehmlich das Regietheater und setzte das engstirnige Denken in die Produktion und Vermischung von Äußerungen, Meinungen auf eigener Ebene fort. Doch kann dies wirklich eine Antwort sein, oder ist es vielmehr kreativer Mischmasch? Jedenfalls führte er dazu, dass neben diesem ein neuer Freiraum entstand, den es nun zu gestalten gilt. Es geht um nicht mehr als um eine neu erweitere Wertung und Erscheinungsform von Ich sowie Wir, und zwischen Ich und Wir.
Eine Wende kann gelingen, wenn die Aufmerksamkeit wieder vermehrt auf die bereits entwickelten menschlichen Umgangsformen im Humanismus gelenkt wird, um eine neue Renaissance, Wiederbelebung auf den Weg zu bringen. Das Theater ist, neben dem Film und der Literatur, die bewährte Bühne für diesen Versuch. Wer wagt ihn?
Der klassisch humanistisch aufgeklärte Mensch als Grunderscheinungsform für zeitgemäße Inhalte wäre eine bereichernde Spezies für diese Welt. Sich diese Merkmale und ebenso die bislang angedachten Ideale in Erinnerung zu rufen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und daraus eine höchsteigene Form zu entwerfen und zu äußern, kann persönliches Leben in der Gegenwart einer Massengesellschaft ausmachen, die Vielfalt bereichern und die gewollte Individualität schaffen. Dies der Entscheidung des Einzelnen zu überlassen, wäre der Anfang einer wahrhaft liberalen Gesellschaft. Sie setzt jedoch ausreichend umfassende Wissensbildung ebenso voraus, wie Raum und Unterstützung zur Wesensentwicklung und die Vermittlung respektvoller Rituale, Verhaltensformen in der Gesellschaft. Kunst bedeutet Schaffen und somit immer mehr als bloßes Nachbilden oder Spiegeln.
C.M.Meier
August 2019