Residenz Theater Die Bakchen von Euripides


 

 

Im Zweifel unverbindlich

Dionysos hält in Begleitung einer Schar willfähriger Frauen, Bakchen genannt, Einzug in Theben. Es ist die erste Stadt, in der er seinen Kult einführen will und die ihm als Gott huldigen soll. Das gibt er vor, doch in Wirklichkeit ist er gekommen, um diese Stadt zu strafen, da sie seine Göttlichkeit in Abrede gestellt hat. Der junge Herrscher Pentheus stellt sich ihm in den Weg, da er den Kult für einen barbarischen und seinen Stifter für einen Scharlatan hält. Der stierköpfige Gott nimmt in menschlicher Gestalt blutige Rache und reißt die Stadt unter wahnhafter Mithilfe der Bakchen ins Verderben.

Als Euripides 408 v.Chr., also nur gut ein Jahr vor seinem Tod, Athen verließ, war er zutiefst desillusioniert. Er ging an den Hof des Mazedonischen Königs Archelaos, wo er einen friedvollen Lebensabend verlebte. Im Verständnis der Griechen allerdings ging er an den Hof der Barbaren. In prophetischer Weise und vermächtnishaft hinterließ er den Griechen seine "Bakchen", die mit der Uraufführung 405 v.Chr. vorab ihren eigenen Untergang feierten. Das Ende des Peloponnesischen Krieges besiegelte 404 v.Chr. diesen. Der nachfolgende Hellenismus war nicht weniger barbarisch als die Zeit vor Perikles und seinem "Goldenen Zeitalter".

Bis zu dieser Zeit galten die Griechen als Menschen, die von heiterer Gelassenheit beseelt waren. Sie lebten in so genannter "Vorsicht", was bedeutete, dass sie "Vorsorge" für ihr Leben trafen, um es sicherer zu gestalten. Das hatte nun ein Ende mit Bakchos oder Dionysos.

"Beim Sturm durch den lydischen, phrygischen Wald / Erhascht er ein Böcklein, um blutige Gier / Am zuckenden Fleische zu letzen."

Das macht Schaudern, heute, und war doch Realität. Aber würden wir noch natürlich - nicht kulturell von den ureigenen Instinkten entwöhnt - empfinden, wäre es durchaus einleuchtend. Bertrand Russel schrieb zu diesem Thema: "Es ist nicht weiter überraschend, dass der Dionysos in Griechenland so freudig aufgenommen wurde. Wie alle Völker, die sich kulturell rasch entwickelten, hatten auch die Griechen eine Vorliebe für das Primitive; sie sehnten sich nach einer triebhafteren und leidenschaftlicheren Lebensweise, als die herrschenden Moralvorschriften es zuließen. Vernünftig zu sein ist für den Mann und die Frau beschwerlich, die sich zwangsweise kultivierter benehmen müssen als sie empfinden; Tugend wirkt dann wie eine Last und wie die Sklaverei." Das war also der Hintergrund für einen Bakchoskult.
 
 

 
 

Jens Harzer, Rolf Boysen

© Thomas Dashuber

 

 

Ein weiterer Aspekt soll zumindest erwähnt werden, damit man den barbarischen Akt des Tötens und Verspeisens von Tieren mit bloßen Händen versteht. Es gab eine Vielzahl von Dionysos-Mythen. Einer besagte, dass Dionysos bereits als Knabe von den Titanen in Stücke gerissen und sein Fleisch bis auf das Herz verzehrt wurde. Dieses wurde in einer Fassung von Zeus verschluckt, was zur Wiedergeburt Dionysos führte. Die Bakchen haben mit dem barbarischen Akt des Zerfleischens diesen Vorgang wiederholt. Das Tier war dann die Inkarnation des Gottes. Es ist kaum vorstellbar, doch mit diesem Akt wollten die Menschen eine höhere, eine göttliche Vollkommenheit erlangen.

Einem fest verwurzelten Irrtum soll noch widersprochen werden, nämlich, dass Bacchus oder Dionysos ursprünglich der Gott des Weines war. Tatsächlich trat er seinen Siegeszug mit dem Bier an. Er war ein thrakischer Gott und die Thraker erfanden erst das Bierbrauen, ehe sie zum Wein kamen. Bacchus wurde als der Stifter des göttlichen Rausches verehrt.

Wie verwirrend sind alle die wunderbaren Denkansätze bezüglich des Dramas, des Autors und der im Stück handelnden Personen. Sie sind so wunderbar verwirrend, dass wir davon ausgehen können, auch in den nächsten zwei Jahrtausenden genug Stoff zum Nachdenken und Schreiben zu haben. War das alles so geplant von Euripides? Ich wage es zu bezweifeln, denn seine Motive, die attische Welt war überschaubar und die Handlungen ihre Protagonisten ebenso, reduzierten sich in dieser, der Archaik gerade entsprungenen Gesellschaft, auf natürliche, den vitalen Bedürfnissen entsprechenden, die mit unbeugsamen Willen verfolgt wurden.

Die Verwirrung der heutigen Auffassungen ist ebenso grenzenlos wie die Sprachverwirrung nach dem Turmbau zu Babel. Grund dafür ist, dass es keine in einem "natürlichen" Willen geeinte Kraft mehr gibt. Wie auch, wenn Visionen ins Reich der Legenden verbannt sind. Wo Pragmatismus herrscht, herrscht kein Geist des Gestaltens sondern des Verwaltens und der braucht weder Titanentum, Begabungen noch den göttlichen Funken. Was wir heute in der Welt erleben ist die Auflösung alles Denkens, aller Formen und des Willens. Übrig bleibt bestenfalls ein Konsumismus, der als weltumspannende (mit Absolutheitsanspruch agierende) Religion vielleicht Quantitäten eint wie nie zuvor eine andere Religion, doch keine Qualitäten mehr aufweist. Der größte gemeinsame Nenner bleibt doch immer ein kleiner, häufig unter dem Mittelmaß angesiedelter.

Was von alledem finde ich in der Residenztheaterinszenierung wieder? Alles und Nichts. Im Stück und auch in der Inszenierung prallen zwei Willen aufeinander. Beide Protagonisten versuchen sich Mehrheiten zu verschaffen und, so verfuhr die Geschichte häufig, unterliegt eine der beiden Seiten, wird sie von der Bühne (des Weltgeschehens) getilgt. Bemerkenswerter Weise, und auch hier finden sich zahlreiche Parallelen zur Geschichte, ist es selten der entwickelte, aufgeklärte Geist der obsiegt, sondern das Rohe, das Unkultivierte. Auch das ist nur natürlich, denn das Rohe und Unkultivierte folgt den Instinkten und nicht der Vernunft, braucht sich also an keine kulturellen Regeln zu halten.

Das ist etwas, was wir tagtäglich erleben und so nicht wahrhaben wollen, denn es könnte polarisieren und vielleicht sogar ideologisieren. Davor aber sei unsere liberale und demokratische Geisteshaltung. Hier zeigt sich auch eine Facette unserer in der Geschichte beschädigten deutschen Seele. Während andere Völker achselzuckend und sich selbst lauthals preisend über ihre blutige und nicht weniger unmenschliche Geschichte hinweggehen, steht Deutschland dem Rest der Welt als personifizierter Sündenbock zur Verfügung, demutsvoll und unfähig, die eigenen Interessen zu vertreten. Dabei sind die jetzigen Bürger dieses Landes die Nachgeborenen und schuldlos. Bei alledem fragt man sich, wie konnte es in einer so rundum blutigen Geschichte überhaupt zu einem gesellschaftlichen Fortschritt kommen?

Und hier wäre ein guter Ansatz, dem Stück eine deutliche Aussage zu geben, nämlich die der Vernunft. Immerhin geht es in dem Stück um den Irrationalismus, von dem beide Seiten befallen sind. Die Vernunft, und wir sind noch im Besitz derselben, sollte den Kult des Dionysos als das klassifizieren, was er ist, nämlich die pure Barbarei, die es zu überwinden gilt. - Folgten wir einst dem kategorischen Imperativ, beherrscht uns zunehmend der kategorische Instinktiv! - Aber das fand leider nicht statt. Vielmehr beließ man den Zuschauer im Bann der Mysterien.

Pentheus, in lebendiger Darstellung durch Jens Harzer, war ein Herrscher, der sich verantwortlich zeigte für das Gemeinwesen, der sich jedoch zu den heutigen echten Demokraten darin unterschied, dass er sich seines Machtmonopols ohne Skrupel bediente, wie beispielsweise diejenigen, denen Demokratie ein Vorwand ist. Er hatte allerdings keine Chance, denn er legte sich, was er nicht wusste oder zumindest leugnete, mit einem Gott an. Man sollte bei der ganzen Vorgeschichte meinen, Dionysos sei verschwenderisch in allem, in Gesten, Minen und Handlungen. Rolf Boysen als derselbe ging hingegen kühl berechnend und generalstabsmäßig vor. Während sich Harzer noch menschlicher Verhaltensweisen bediente, blieb der Widerpart Rolf Boysen unterkühlt und kraftvoll deklamierend. Sein weibliches Pendant fand er in Gisela Stein als Anführerin der Bakchen.

Regisseur Dieter Dorn verstand es durchaus, die dumpfe animalische Kraft der Backchen erlebbar zu machen. Der Aufwand war groß, auf Stefan Hageneiers Bühne den Niedergang Thebens sichtbar zu machen. Ein großer Felsen durchschlug effektvoll gleich eingangs die Decke des Hauses Kadmos, die Ankunft Dionysos verkündend. Später verwandelte sich dieses Haus, das gleichsam für Theben stand, in Trümmer.

Große Mimen agierten unter geübter Regie und dennoch konnte diese Inszenierung nicht Offenbahrungscharakter erlangen. Das lag ein wenig auch an der Übersetzung von Michael Wachsmann, die in ihrer geradezu barocken Opulenz nicht unbedingt dem kargen Sprachduktus des antiken Deklamationstheaters entsprach. Die Vielzahl der Lyrismen und sprachlichen Stilmittel war derart auffällig, dass diese hörbar wurden und Beachtung einforderten, letztlich also ablenkten. Sprache war hier nicht immer nur Mittel, gelegentlich schien sie auch Zweck zu sein. Erinnert sei an die wunderbare "König Ödipus" Inszenierung von Sophokles am selben Haus in der genialen Übersetzung von Hölderlin!

Doch der entscheidende Faktor, warum die aufwendige Inszenierung nicht wirklich in den Bann schlug, war die Unverbindlichkeit. Die besondere, aus der heutigen Zeit resultierende Sicht fehlte und der Zuschauer sah eine ordentliche Inszenierung mit guten Schauspielern, ohne jedoch zu erfahren, warum ihm dieses Stück hier und heute geboten wird. Fehlte es an guten Gründen und blieb man darum im Zweifel unverbindlich?
Bleibt abzuwarten, ob die Kammerspiele einen deutlicheren Grund haben, dieses Stück auf die Bühne zu bringen.

 
 
Wolf Banitzki

 

 


Die Bakchen

von Euripides

Rolf Boysen, Gisela Stein, Ulrike Arnold, Lena Dörrie, Katharina Gebauer, Anna Riedl, Andrea Barabas, Uschi Beckers, Renate Buchecker, Maria Falk, Barbara Fried, Andrea Hermenau, Anastasia Papadopoulou, Babett Pönisch, Andrea Schick, Janine Schmidt, Angelika Vizedum, Fred Stillkrauth, Rudolf Wessely, Jens Harzer, Burchard Dabinnus, Stefan Wilkening, Helmut Stange, Sibylle Canonica

Regie: Dieter Dorn