Kolumne


 

Das A und O oder das O des A

Seit Jahrhunderten lassen Menschen im Schauspiel ihre Begegnung mit dem unergründlichen Schicksal und dem unausweichlichen Alltag sichtbar werden. Charakterzüge, Leidenschaften, die Schatten der Seele mithin und gesellschaftliche Anliegen fanden Darstellung auf Bühnen und dienten so dem Ziel der Aufklärung der Zuschauer, der Entwicklung durch Spiegelung der Szene. Hermann Hesse schrieb: „Jede Zeit, jede Kultur, jede Sitte und Tradition hat ihren Stil, hat ihre ihr zukommenden Zartheiten und Härten, Schönheiten und Grausamkeiten, hält gewisse Leiden für selbstverständlich, nimmt gewisse Übel geduldig hin.“ Doch was offenbaren die alten Werke in einer neuen Zeit, in der die alten Werte entwertet und neue Formen geriert werden, und das alles nur um sich weiterhin aus jeder Verantwortung zu stehlen? Die Würfel sind gefallen und ein neuer Unstern zog auf.

„Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“, sagte Heraklit vor 2500 Jahren ohne zu ahnen, welche tief greifenden Auswirkungen seine Äußerung später haben würde. In die gegensätzlichen Eigenschaften von Gut und Böse kategorisierte Mensch daraufhin und aus dieser Moral folgten innere Verdrängung und Unterdrückung oft weit über das naturgemäße Maß hinaus. Der Mensch verlor sein Gleichgewicht, seine Universalität. Dann umklammerte er Halt suchend die Maschine. Die Technik braucht den sie bedienenden Organismus, so wie das Starre das Anpassungswillige bedingt. Die Flucht vor dieser Realität trieb ihn auf Wolke D. Im scheinbar befriedeten Zeitvertreib mit Kriegsspielen oder der Gestaltung von digitalgesteuerten Autos, in deren Steuerungstastatur Finger Zielorte eintippen, gefällt er sich.

Das Denken in den Mechanismen, die einer Software entsprechen, nimmt überhand und unmittelbar funktioniert die Verschaltung der Synapsen im Gehirn in derselben Weise, wie diese in der Maschine erfolgt. Dies ist für Verständnis notwendig, ebenso wie die Spiegelneuronen für eine Empathie mit dem Apparat sorgen. Visionen, Bilder entstanden bislang naturgemäß in den Köpfen von Menschen - eigenwillig. Im neuen vice versa hat die Maschine den Organismus angepasst und nun wachsen allenfalls die Datenmengen in Algorithmen. Sekündlich werden unüberschaubare Massen davon produziert.Wachstum ist die eine Seite der Natur, liegt somit in der Natur des Organismus. Nun wächst eben etwas überproportional ins Reich der Zahlen, in die Funktion, in ein Schema. Der Mensch war schon immer auf Fortschritt aus … fort … fort … fort verändern verbessern vervielfältigen hinauswachsen … wohin … ins Digitale zwangsläufig … Ergebnis: Scheinbare Perfektion durch angepasste Betriebsamkeit! Schier endlose Energieströme durchlaufen die Bahnen in Maschinen und den sie bedienenden Cyberorganismen. Es sind umfassende Veränderungen, die in den Figuren stattfinden. Was früher ein analoger Mensch war, charakterisiert in den Dramen von Ibsen, Miller oder Kroetz, wird heute zum digitalen Funktionsorganismus.

Die Zeit rast, die Erde stellt die Welt auf den Kopf und durch die technischen Fortschritte schafft der Mensch, wie wir ihn bisher kannten, sich selbst ab. Ob dann der Blick in den Spiegel wirklich wiedergibt, was man zu sehen glauben will? Oder, ob eine neue Spezies die alten Kleider, die traditionellen Rollen umdesignt und sich im Rückschritt auf 0 gefällt, wird sich wohl nicht jedem einzeln offenbaren. Das kann beispielsweise auch geäußert werden, indem man einfach nur den einfallsreichen Nachahmungsmodus nutzend traditionell entstandene Namen simplifiziert (die Zwanghaftigkeit von Anpassung in optimale Nutzbarkeit ist eine Form von Design), um aufzufallen und sich selbst in RA(u)M 1, 2 oder 3 demaskiert und öffentlich abgleicht. Aktionismus, Unterwerfung in Betriebsleistung, eine Flatrate um offensichtlichen Stillstand zu kaschieren. Auch scheint es geradezu zwanghaft, wie im selben Zusammenhang schriftliche Information in Buchstabenbilder aufgelöst (wohl eine Modeerscheinung von Kreativität) und mit dem Vorgang Copy+Paste nach zusätzlichem Effekt gehascht wird. Der homo digitalis sammelt Worte, Bilder und montiert diese ineinander. Er erzeugt Collagen in denen Design und Funktion überwiegen, um sich schließlich durch Beachtungsexzesse in den Mittelpunkt zu rücken. Der Zweck heiligt die Mittel. In einer Welt der Spiegel, der silbernen Spiegel, der gläsernen Schauspiegel, einer Vorspielkammer, der Spiegelung im Gegenüber erscheint das Bild als flimmerndes Schema, als Farbfläche oder als Verzerrung einer Vorstellung der Kopie vom Äußeren. Sicher ist, auf der Ebene der Bildschirme erkennt man einander, gleicht sich in der Version 0. des Betriebsmodus ab. Wer Sie Er Ich Es oder eine seelenlose 0? Es ist leichter den Spiegel zu zerbrechen, als sich ehrlich anzuschauen.

Hier wird ein X für ein U vorgemacht, indem Erleichterung und  Bequemlichkeit vorgegaukelt, als eine Lösung propagiert wird, die keine ist, sondern vielmehr ein Weg der hinters Licht führt. Konnte der Mensch noch bis 3 zählen, so schwebt der Funktionsorganismus zwischen den Steuerungsimpulsen 0 und 1 (Chillen und Leistung). Der Algorithmus löst die Metapher ab. Doch was, wenn der Algorithmus nur dem mathematisch erfassten Klischee von etwas entspräche, ihm gleichzusetzen wäre? Ein Bildschirm, eine Brille soll fiktiv eindeutige Realitäten vorspiegeln - heute das A, das Alpha des Digitalen und damit das O, das Omega des Analogen und damit der naturgemäß freien Werkträume. Die Seele, der bewegte Gefühlsraum ist das Schöpfungszentrum für Kultur, für Kunst, für Schauspiel. Sie hat die aufmerksame universelle Wahrnehmung verloren, die nun einer funktionalen Reflexion weichen musste. War ein Zünglein an der Waage bislang das Theater, so kaut der Zahn der Zeit auf ihm, wie auf dem Menschenbild. Oft auf Rede oder Zurschaustellung von kausalen Befindlichkeiten reduziert, ist es fraglos dabei das Zeitliche zu segnen. Ebenso wird beispielsweise Theater zu Partylocation, persönlichem Wohnzimmer gleichzeitig erklärt, sowie zu Talkshows genutzt. Oder geht es hier vielmehr nur darum einen alten Zopf abzuschneiden, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen?

Der Mensch kam mit der Natur, damit auch seiner eigenen Natur und den Möglichkeiten daraus kaum zurecht. Ein Blick auf die Erde und die Welt offenbart dieses Scheitern selbst den Sehbehinderten. Nun versucht er sich in einer und in vielen anderen Dimensionen gleichzeitig, schwebt auf Wolke D, um sich letztlich im blauen Dunst aufzulösen und gleichzeitig im Sande zu verlaufen. Wenn nichts mehr sicher ist, wie kann dann jemand glauben in einem Spiegel seinen Schatten zu erkennen?


C.M.Meier

 

 


Oktober 2015