Volkstheater Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer




Sturz in die Tage voller Bösartigkeiten

Zweiundzwanzigjährig schrieb die Ingolstädter Dichterin Marieluise Fleißer (1901-1974) ihr Drama von einer Jugend in der Sackgasse. Es war auch ihre eigene, aus der sie sich schreibend befreien wollte. Mit geringem Erfolg übrigens, wie ihre Biografie zeigt. Das Stück handelt vom Anderssein und von den Problemen, die das Außenseitertum mit sich bringt. Die Hauptheldin Olga (Stephanie Schadewald) ist schwanger und der Kindsvater Peps (Karsten Dahlem) jagt bereits in anderen Gefilden. Ausgerechnet Roelle (Nicholas Reinke), ein Sonderling, der Olga liebt, hat ihren "Fehltritt" öffentlich gemacht. Die Sache macht die Runde in Ingolstadt und ein Fegefeuer entbrennt. Die Jugendlichen, alle irgendwie auf der Suche nach dem Ausgang, bereiten sich die Hölle, wobei sie die Prämissen der gutkatholischen Gesellschaft bedienen, der sie zu entfliehen suchen. Roelle geht dabei am konsequentesten seinen Weg, in dem er die bigotte Religiosität überhöht in der Hoffnung, ein Heiliger zu werden. Eine Steinigung holt ihn auf den Boden der Realität zurück. Am Ende ist alles offen. Liebe bleibt unerwidert und Auswege sind lediglich Katastrophen.

Regisseurin Jorinde Dröse gelang eine tieflotendende Inszenierung, deren wichtigster Vorzug wohl darin besteht, respektvoll mit dem Text umgegangen zu sein.

In einer Welt von seelischen Kretins ist die oder der Normale ... nein, nicht König, sondern der eigentliche Kretin. Alle Figuren, deren Charaktere Verstümmelungen aufweisen, stattete die Regisseurin mit kleinen aber unübersehbaren Haltungsabnormitäten aus. Da ging einer mit eingeknickten Knien; ein anderer machte den Kratzfuß, ehe er sprach und jener hinkte wie ein getroffenes Tier. Auf den ersten Blick schienen die Defekte nebensächlich, doch mit dem Fortschreiten der Geschichte konnte der Zuschauer die Deckungsgleichheit zwischen Psyche und körperlicher Haltung deutlich erkennen. Die Vielschichtigkeit der Geschichte wollte bewältigt werden. Jorinde Dröse gelang dies durch intelligente Verknüpfung der einzelnen Darstellungen. Das war umso schwieriger, da die Figuren in der Geschichte ihre Haltungen verändern, quasi die Seiten wechseln. Unter Verzicht auf grobe Schnörkel und überhitzte Einfälle verwob die Regisseurin das Spiel zu einem deutlichen und in jeder Hinsicht spannenden Sittenbild, dessen Ausweglosigkeit in der Vorlage begründet liegt. Das Bühnenbild von Julia Scholz war zudem maßgeschneidert. Ein leerer sandfarbener Kastenraum, nur mit einem Sessel, einem Tisch und dem obligatorischen Kreuz versehen, widerspiegelte eingangs häusliche Enge. Als die Rückwand fiel, wurde der Blick auf die äußere Welt frei, die ebenso wenig entgrenzt war. Auch sie war nur ein Kasten, schützend aber weitestgehend verschließbar.


Nicholas Reinke, Elisabeth Müller, Stephanie Schadeweg

© Arno Declair


Das vorzügliche Ensemblespiel ließ darauf schließen, dass die Chemie zwischen Regisseurin und Darstellern funktionierte. (Aber wer weiß das als Außenstehender schon?) Dennoch sollen Stephanie Schadeweg als Olga und Nicolas Reinke als Roelle hervorgehoben werden. Stephanie Schadewegs Olga war trotzig selbstbewusst im Aufbegehren, voller Verzweifelung gegen Gott und begehrlich in ihrem Drang nach aufrichtiger Liebe. Nicholas Reinkes Reolle, der krasseste Außenseiter der Geschichte und somit im ständigen Focus der Gesellschaft, wird seiner Aufgabe als von der Gemeinschaft dauerhaft Ausgestoßener mehr als gerecht. Als er am Ende die eigene Mutter tötet und emotionslos entsorgt, ist der Zuschauer überzeugt, dass kaum ein anderes Ende möglich war. Dieser Roelle war einer von allen Hunden (und auch sich selbst) gehetzten. Bei den Darstellern der Nebenrollen fiel besonders Leopold Hornung auf. Als Cervasius war er am stärksten gezeichnet. Seine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Fratze kündete von Hass und Aggression. Und doch nahm auch diese Figur am Ende menschliche Züge an. Als sich die Einsicht einstellte, dass der Wolf unter Wölfen auch nur allein ist, zerbricht die grausige Maske.
Ein starkes Theaterstück fand seine Meisterin, was dem Volkstheater gut zu Gesicht steht. Nebenher sei noch auf das informative Programmheft verwiesen, in dem Marie-Luise Fleißer selbst zu Wort kommt und sehr menschliche Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Dramas preisgibt. Immerhin verscherzte sie sich mit diesem Stück (vor allem aber mit dem Drama "Pioniere in Ingolstadt") die Sympathie der Ingolstädter Mitbürger. Viele Jahre musste die große Dichterin sprachlos in der inneren Emigration verbringen.
Doch das alles hat sich ja grundlegend geändert und inzwischen vergibt die Stadt einen Literaturpreis im Namen ihrer großen Tochter. Gottlob! Oder trügt da vielleicht der Schein? Unlängst entbrannte nämlich im schönen Städtchen Regensburg eine Diskussion um einen gekreuzigten Frosch von Martin Kippenberger. (Siehe Programmblatt Volkstheater Januar 2005.) Das kommt in einer demokratischen Gesellschaft vor, möchte man meinen. Mich macht aber dennoch der Ton stutzig, in dem der Oberbürgermeister von Regensburg Hans Schaidinger als 1. Punkt einer Stellungnahme zum Vorgang erklärt:
"Blasphemie (Gotteslästerung) und Verhöhnung von Glaubensinhalten und Glaubenssymbolen hat im Handeln der Stadt Regensburg keinen Platz und wird weder toleriert noch gut geheißen."
Also, Künstler von Regensburg, haltet die Augen offen!


Wolf Banitzki

 

 


Fegefeuer in Ingolstadt

von Marieluise Fleißer

Alexander Duda, Stephanie Schadeweg, Elisabeth Müller, Benjamin Mährlein, Nicholas Reinke, Sophie Wendt, Helmut Zhuber, Leopold Hornung, Karsten Dahlem, Heike Koslowski, Tobias van Dieken, Marcus Brandl.

Regie: Jorinde Dröse
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